Kommentar zu 75 Jahre Nürnberger Prozesse: Das Weltgericht bleibt eine Verheißung
18.11.2020, 12:17 UhrVor 75 Jahren begann in Nürnberg ein Experiment, das immer noch andauert und dessen Ausgang nach wie vor ungewiss ist: Erstmals in der langen Geschichte menschlicher Verbrechen mussten sich Machthaber eines Unrechtsstaates vor Gericht für Taten, die ihnen zuvor kein Gesetz verboten hat, verantworten. Mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess wurde also juristisches Neuland betreten, das moderne Völkerstrafrecht aus der Taufe gehoben.
Kein Wunder, dass die Verteidiger der führenden NS-Kriegsverbrecher sich sofort auf den Rechtsgrundsatz "nulla poena sine lege", also kein Bestrafung ohne Gesetz, berufen haben. Dass es dem internationalen Tribunal dennoch gelungen ist, über die Nazi-Täter zu richten, das macht die Nürnberger Prozesse so einzigartig.
Heute sprechen Experten deshalb gerne von der Geburtsstunde des modernen Völkerstrafrechts, wenn sie auf das welthistorische Ereignis zurückblicken. Dieser Geburtsstunde gingen heftige Wehen voraus. Denn das Verhältnis der Alliierten, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland noch weitgehend einig vorgingen, war binnen weniger Monate in eine Krise geraten. Eine, aus der Jahre später der Kalte Krieg resultieren sollte.
75 Jahre Nürnberger Prozesse: "Macht und Ohnmacht"
Neben diesem angespannten Verhältnis galt es, eine rechtliche Hürde zu meistern: Welche Regeln sollten im Nachhinein mit welcher Begründung zur Anwendung gelangen?
Zur Lösung des Problems griffen die Siegermächte tief in die juristische Trickkiste: Nach monatelanger Vorbereitungszeit kaprizierten sich US-Chefankläger Robert H. Jackson und seine Kollegen aus der Sowjetunion, aus Großbritannien und aus Frankreich auf naturrechtliche und christliche Prinzipien, denen sie einen immergültigen Status zuschrieben.
Anders formuliert: Weil Verstöße gegen die Menschenwürde stets anklagbar sein müssen (siehe Artikel 1 unseres Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar") konnten auch die Kriegsverbrechen und anderen Nazi-Schandtaten gegen die Menschlichkeit von den alliierten Richtern zur Anklage gebracht werden.
Das böse Wort von der Siegerjustiz
Ein gleichermaßen genialer wie auch angreifbarer Schachzug. Es dauerte denn auch nicht lange, bis das hässliche Wort der Siegerjustiz die Runde machte. Der erste Versuch, die Hauptprotagonisten einer Diktatur persönlich zur Rechenschaft zu ziehen, verlief im Grunde genommen rasch im Sande.
Natürlich wurden Todesurteile gegen die Ober-Nazis gesprochen und vollstreckt, doch das Gerechtigkeitsempfinden im Nachkriegsdeutschland konnten die Nürnberger Prozesse noch nicht nachhaltig verändern. Zu sehr standen die Zeichen damals auf Verdrängung. Zu sehr wollten vormals auf Nazi-Seiten stehende Führungskräfte ihre Karrieren fortsetzen. Und zu sehr waren sich fast alle einig, dass es gerade drängendere Probleme als das Führen ellenlanger und komplexer Prozesse gab. Not und Elend waren allgegenwärtig im Nachkriegsdeutschland.
Letztes Urteil gefallen: Das wird aus dem historischen Saal 600
Schon 1950, es waren nur fünf Jahre seit Ende der Hitler-Herrschaft vergangen, hatten zwei Drittel der Menschen, die in der kurz zuvor gegründeten Bundesrepublik lebten, Zweifel an der Gerechtigkeit der Verfahren. Rasch war der Mantel des Schweigens über die Nazi-Verbrechen und die Beteiligung weiter Bevölkerungsschichten ausgebreitet. Ein geräuschloser Pakt, der formell nie geschlossen und doch Jahrzehnte gehalten hat. Gleiches galt im Übrigen für die Aufarbeitung staatlicher Gräueltaten in den Gerichtssälen dieser Welt.
Es sollte bis zu den Jugoslawien-Tribunalen dauern, ehe sich die Weltgemeinschaft wieder der Nürnberger Prinzipien besann. Unter diesem Namen wurden von den Vereinten Nationen die wesentlichen Grundsätze, die sich aus dem Urteil von Nürnberg ableiten ließen, zusammengefasst. Mittlerweile gibt es diverse Tribunale und als größte Errungenschaft sogar den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dort wird Völkerstrafrecht verhandelt, dort kommen die Nürnberger Prinzipien zur Anwendung.
Allerdings, das ist die große Einschränkung, können sich Staaten ganz leicht um eine Anklage in Den Haag drücken – indem sie den Gerichtshof schlicht als nicht zuständig für die eigenen Bürger deklarieren. Alle Großmächte halten das so – von den USA über Russland bis nach China. Sie verhöhnen damit geradezu die Autorität der Richter von Den Haag und die Nürnberger Prinzipien. Aus den USA waren zuletzt sogar Drohungen zu hören. Sollte der internationale Strafgerichtshof gegen US-Soldaten vorgehen wollen, könnten Einreiseverbote und finanzielle Sanktionen die Folge sein, hieß es unverhohlen aus Washington.
Supermächte verweigern sich Den Haag
Die Hoffnung auf einen funktionierenden Weltstrafgerichtshof hat sich durch die Nürnberger Prozesse also noch nicht erfüllt. Während Optimisten auf den Sieg der Vernunft setzen und die Weichen für ein flächendeckendes Völkerstrafrecht stellen (beispielsweise indem Juristen an der Akademie Nürnberger Prinzipien ausgebildet werden), sprechen die Realisten von einem weiten und steinigen Weg, den es zu beschreiten gilt.
Ein Weltgericht, das sich am Vorbild der Nürnberger Prozesse orientiert, bleibt auch nach 75 Jahren eine Verheißung. Das Experiment, das am 20. November im Saal 600 des Justizpalastes begonnen hat, wartet auf sein gutes Ende. Im Jahr 2020 gibt es immer noch politisch Verantwortliche, die Verbrechen begehen können, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden. Eigentlich ein Skandal.
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