Über 50.000 Drogendelikte pro Jahr
Kriminalität, Abhängigkeit und Tote: Wieso Bayern ein Drogenproblem hat – und was helfen würde
13.10.2024, 04:55 UhrDer alte botanische Garten in München ist seit über 200 Jahren Erholungsort und ein Platz zum Innehalten für die Bewohner und Besucher der Stadt. Die "grüne Oase", wie sie auch bezeichnet wird, lädt mit ihren exotischen Bäumen und dem Neptunbrunnen vor allem in den warmen Monaten zum Verweilen in der Idylle ein. Zumindest war das lange so.
Mit der Realität hat das mittlerweile nichts mehr zu tun. Immer wieder macht der Stadtpark Negativschlagzeilen, erst vor kurzem wurde dort ein 57-Jähriger Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens.
Ein Szenebrennpunkt mit eigener Taskforce
Der Garten gilt als Hotspot für Kriminalität in München. Immer wieder kommt es zu Schlägereien, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und Drogendelikten. Im Sicherheitsreport für das vergangene Jahr wird der Park als "Szenebrennpunkt für Drogenkriminalität" bezeichnet. Nur am Hauptbahnhof um die Ecke wurden in 2023 mehr Straftaten angezeigt als im alten botanischen Garten.
Das weiß auch die Stadt München. Um dort für mehr Sicherheit zu sorgen, haben die Verantwortlichen im vergangenen Mai eine eigene Taskforce eingerichtet. Mittlerweile gibt es ein Messerverbot, die Büsche und Bäume wurden gestutzt und die Beleuchtung verbessert. Die Polizeipräsenz wurde ebenfalls verstärkt, die Zufahrtswege für Beamte wurden ausgebaut und seit diesem Sommer gibt es sogar eine neue Videoüberwachungsanlage. Dennoch kommt es im alten botanischen Garten nach wie vor zu allen möglichen Straftaten.
Vier von fünf Straftaten auf der Grünfläche sind Drogendelikte. Mit diesem Problem ist München aber nicht allein. Ganze 51.151 Straftaten vermeldete die Polizei vergangenes Jahr im Zusammenhang mit Rauschgift in Bayern.
Den Zenit der letzten zehn Jahre erreichte der Freistaat 2019 mit 55.888 Drogendelikten, seit 2021 sind die Zahlen auf einem relativ gleichbleibenden Niveau. Auch bei den Drogentoten hat sich in Bayern zuletzt wenig getan, seit 2018 starben im Schnitt etwa 255 Menschen pro Jahr durch den Konsum.
Für Anita Diesener von der Stadtmission Nürnberg liegt das auch an der großen Menge hoch konzentrierter Drogen auf dem Markt. Für den Drogenkonsum spiele die Verfügbarkeit eine große Rolle, so Diesener. Es gibt aktuell also trotz der strikten Drogenpolitik nicht nur jede Menge illegaler Drogen in Bayern, die Substanzen sind sogar verhältnismäßig hoch dosiert. Vor allem Kokain und Crystal weisen in der Regel einen hohen Reinheitsgrad auf.
Die bayerische Landesregierung aus Freien Wählern und der CSU bleibt derweil bei ihrem restriktiven Umgang mit Rauschmitteln. Bei der Bekämpfung des Drogenproblems setzen Regierung und Polizei in erster Linie auf Präventionsmaßnahmen. Ausreichend Angebote für Menschen, die bereits süchtig sind und Hilfe suchen, gibt es nicht. Auch die Teil-Legalisierung von Cannabis wolle Markus Söder "so streng wie möglich" umsetzen, das Gesetz sei "eine Schande für das Land".
Dabei hat der Freistaat ein deutlich größeres Problem als Marihuana. Im Norden nahe der tschechischen Grenze ist Crystal Meth seit Jahren auf dem Vormarsch.
Crystal Meth als Droge einer Leistungsgesellschaft
Crystal Meth ist auf chemischer Ebene eng mit Amphetaminen verwandt. Meist wird es in Form von kleinen Kristallen oder als Pulver verkauft und konsumiert, erklärt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Unter Einfluss von Crystal Meth verspüren Konsumenten häufig eine starke Euphorie, ein erhöhtes Selbstwertgefühl und eine gesteigerte Risikobereitschaft. Oft erhöhen sich nach dem Konsum Puls, Herzfrequenz und der Blutdruck. Die Droge macht schnell abhängig und kann im Körper immense Schäden anrichten.
Langfristig kann der Konsum von Meth unter anderem Hautentzündungen, Zahnausfall, Lungen- und Nierenschäden sowie Depressionen und Halluzinationen auslösen.
Doch viele konsumieren die Droge nicht nur in ihrer Freizeit. Crystal Meth kann den Antrieb und die Motivation steigern. Für Menschen, die auf mehr als einen Job angewiesen sind, ist es eine drastische, aber wirkungsvolle Methode, die zusätzliche Arbeit stemmen zu können. Es ist die Droge einer Leistungsgesellschaft.
Typische "Junkies" gibt es nicht
Zu den Konsumenten gehören Menschen aus allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten. Den typischen Abhängigen gibt es nicht, vom Bankangestellten bis zum Maurer gibt es in jedem Bereich Süchtige.
Ihre Abhängigkeit können Betroffene zwar häufig lange verheimlichen. Irgendwann leiden die Leistungsfähigkeit und der eigene Körper aber so sehr unter dem Konsum, sodass es zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz kommt. Aber auch das soziale Umfeld und die Familie von Süchtigen werden durch die Droge stark beeinträchtigt. Nicht selten fangen Betroffene selbst mit dem Dealen an, um ihren Konsum überhaupt noch finanzieren zu können.
Wie verbreitet die Crystal Meth tatsächlich ist, lässt sich nur schwer beziffern. Eine Untersuchung der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht aus 2023 nahm das Abwasser großer Städte genauer unter die Lupe. Die Maßnahme ergab, dass Crystal Meth in Nürnberg die mit Abstand am meisten vertretene illegale Droge im Abwasser ist. Vor allem immer mehr (junge) Frauen konsumieren die Droge. Doch nicht nur in diesem Bereich kann man eine beunruhigende Entwicklung beobachten, der Konsum in Nürnberg steigt auch insgesamt immer weiter an.
Bei jungen Menschen sind vor allem Medikamente und Partydrogen verbreitet, die ebenfalls schwere Folgen nach sich ziehen können. Ein großes Problem ist hier die Konzentration der Wirkstoffe. Konsumenten haben in Bayern keine Möglichkeit, Substanzen auf ihre Dosierung oder Verunreinigungen prüfen zu lassen. So können andere Stoffe, die als Streckmittel genutzt wurden, in den Körper gelangen und womöglich zusätzlichen Schaden anrichten. Außerdem steigt so die Gefahr einer Überdosis.
Vielversprechende Maßnahmen werden nicht umgesetzt
Seit dem vergangenen Jahr ist es für die Bundesländer deutlich einfacher, Einrichtungen zum sogenannten "Drugchecking" einzuführen. Dort können Personen illegale Substanzen auf ihre Dosierung und Verunreinigungen testen lassen, ohne sich Sorgen vor der Polizei und einer Strafverfolgung machen zu müssen.
Einige Bundesländer, unter anderem Hessen und Baden-Württemberg, begrüßten die Neuerung. Berlin hat die Methode bereits eingeführt. In Bayern hingegen gibt es bislang keine konkreten Pläne, das Drugchecking wenigstens auszuprobieren.
Dabei erhöht es nicht nur die Sicherheit der Konsumenten. In anderen EU-Ländern, zum Beispiel in den Niederlanden oder der Schweiz, ist die Methode bereits legal. Studien aus diesen Regionen zeigen, dass das Drugchecking den Konsum nicht fördert. Das Überprüfen der Substanzen trägt stattdessen sogar zu einem vorsichtigeren Umgang mit illegalen Drogen bei.
Aber auch die Einrichtung von Konsumräumen hält Anita Diesener von der Stadtmission Nürnberg für eine sinnvolle Methode. Dort können Süchtige unter medizinischer Aufsicht hygienisch und sicher konsumieren. Sie erhalten saubere Utensilien zum Spritzen und können sich bei Bedarf direkt an eine geschulte Person wenden. Verunreinigtes Spritzbesteck kann Krankheiten übertragen, etwa 10 bis 15 Prozent der Drogenabhängigen, die Spritzen nutzen, sind HIV-positiv. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts infizierten sich 2023 alleine in Bayern 40 Menschen durch intravenösen Drogenkonsum mit HIV. Konsumräume können somit Leben retten.
Aber auch die Öffentlichkeit profitiert von Konsumräumen. Unbeteiligte können sich ebenso durch herumliegende Spritzen verletzen oder sogar infizieren. Dieses Problem würde durch die Einrichtung derartiger Räumlichkeiten zumindest verringert.
Nürnberg würde gerne eine solche Einrichtung eröffnen, doch die Landesregierung erlaubt den Kommunen hier keinen Alleingang. Auch die Städte Augsburg und München würden Konsumräume begrüßen. Aber solange sich die bayerische Regierung in diesem Punkt quer stellt, sind den Städten die Hände gebunden.
Das wichtigste ist für Konsumenten jedoch die dauerhafte und stabile Aufrechterhaltung des Suchthilfesystems und deren langfristige Finanzierung. Auch hier gibt es großen Nachholbedarf. In Nürnberg ist der Drogenkonsum weiter zunehmend, es gibt jedoch nicht genügend Beratungsstellen. Durch die Unterversorgung müssen Betroffene, die ihr Problem erkannt haben und sich professionelle Hilfe suchen, oft wochenlang auf einen Beratungstermin warten.
Tschechien ist nicht mehr die erste Anlaufstelle für illegale Drogen
Auch für die Polizei sind die Drogen ein Problem, teilweise haben die Beamten täglich mit illegalen Substanzen zu tun. Sie sind permanenter Bestandteil von Kontrollen, aber auch für den Umgang mit Drogenabhängigen müssen Beamte speziell geschult werden. Der Umgang mit Abhängigen und Personen im Ausnahmezustand ist Teil der polizeilichen Ausbildung sowie des Studiums. Zusätzlich werden Polizisten immer wieder intern auf derartige Situationen vorbereitet.
In Nürnberg war vor allem die Nähe zur tschechischen Grenze lange ein Grund für die hohe Verfügbarkeit von Crystal Meth. Das hat sich allerdings in den letzten Jahren geändert. Wie das Polizeipräsidium Mittelfranken auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt, spielt Tschechien in der Versorgung der Region mit illegalen Substanzen allenfalls noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen hat sich der Schwerpunkt der Zulieferung in die Niederlande verlagert.
Drogenhotspots mitten in der Stadt
Hotspots wie den alten botanischen Garten gibt es auch in Nürnberg. Vor allem gut besuchte Orte wie der Hauptbahnhof und der Plärrer sind schon länger als Schwerpunkte der Drogenszene bekannt. Auf diese Orte hat die Polizei ein besonderes Augenmerk, auch wenn der Drogenhandel sich immer wieder in die weitere Umgebung verlagert. Der Polizei bleibt dann nichts anderes übrig, als ihre Kontrollen ebenfalls zu verlagern.
In München wurde indes eine weitere Maßnahme eingeführt. Bei sogenannten Konzepteinsätzen ist die Polizei mit Unterstützung weiterer Kollegen im alten botanischen Garten unterwegs und führt intensive Kontrollen durch. Das Fazit hierzu fällt bislang positiv aus. An insgesamt 18 Tagen waren die Beamten verstärkt im Einsatz und konnten über 30 Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz anzeigen. 14 Verdächtige wanderten in Untersuchungshaft, meist wegen Drogenhandel. Anwohner, Touristen und ansässige Unternehmer gaben der Polizei positives Feedback zur verstärkten Polizeipräsenz - sagt jedenfalls die Polizei München.
Abschließend beurteilen lassen sich die im Rahmen der Task-Force eingeführten Maßnahmen aber ohnehin erst in einiger Zeit. Der Täter der gewaltsamen Auseinandersetzung, die für einen Beteiligten mit dem Tod endete, konnte jedenfalls mithilfe der Videoüberwachung identifiziert und im Anschluss festgenommen werden. Dass eine verstärkte Polizeipräsenz zu einer Lösung des Problems und einem Rückgang des Konsums führt, darf aber weiterhin angezweifelt werden. Dafür sind die grundlegenden Probleme zu tief in der Gesellschaft verankert. Selbst wenn man den alten botanischen Garten drogenfrei bekäme, würden sich die Drogendealer einen anderen Platz suchen. Mit einer strikten und konsequenten Anti-Drogen-Haltung, wie sie die bayerische Regierung weiterhin an den Tag legt, werden allerhöchstens die Symptome bekämpft. Um das Problem nachhaltig und langfristig anzugehen, muss deutlich mehr passieren.
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