"Auf dem Weg in eine Notlage"
Krisenstab, Teil-Impfpflicht und Pflegebonus: Scholz kündigt neue Corona-Maßnahmen an
24.11.2021, 18:27 UhrMit weiteren Krisenmaßnahmen soll die ungebremste Corona-Welle in Deutschland unter Kontrolle gebracht werden. Der voraussichtlich künftige Kanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte die Einrichtung eines ständigen Bund-Länder-Krisenstabs im Kanzleramt zum Kampf gegen die dramatische Entwicklung an. Es gehe darum, die Lage eng zu beobachten, die Wirkung von Maßnahmen zu überprüfen und weitere Schritte zu entwickeln, sagte Scholz am Mittwoch bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP in Berlin. Pflegekräfte sollten einen erneuten Bonus bekommen. Die künftigen Ampel-Koalitionspartner hätten sich verständigt, dafür eine Milliarde Euro bereit zu stellen.
Um Engpässe in der Intensivbehandlung abzuwenden, sollen bis zum Wochenende mehrere Dutzend Patienten aus Brennpunkten im Süden und Osten in andere Kliniken verlegt werden. Bundesweit gelten seit Mittwoch am Arbeitsplatz und in Bussen und Bahnen Zugangsregeln nur für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G). Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen durchbrach erstmals seit Pandemie-Beginn die Marke von 400. Rufe nach schärferen Eindämmungsmaßnahmen und verpflichtenden Impfungen werden lauter.
Noch nie erlebte Notlage
Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) machte in einem Gespräch mit Vertretern der voraussichtlichen Regierungspartner SPD, Grüne und FDP "den außerordentlichen Ernst der Lage" deutlich, wie Regierungssprecher Steffen Seibert sagte. "Wir sind auf dem Weg in eine Notlage, wie wir sie hierzulande noch nie hatten." Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte erneut eindringlich an die Menschen, sich impfen zu lassen.
Verlegung von Intensiv-Patienten
Bundesweite Verlegungen werden aktuell für rund 80 Intensiv-Patienten über das sogenannte Kleeblatt-Verfahren geprüft, wie der Vorsitzende des zuständigen Arbeitskreises der Innenministerkonferenz, Hermann Schröder, sagte. Dabei geht es um Patienten aus Bayern und dem "Kleeblatt-Ost", zu dem Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Berlin gehören.
So müssen nach Angaben von Landesgesundheitsministerin Heike Werner (Linke) aus Thüringer Kliniken in den kommenden Tagen 14 Patienten in norddeutsche Krankenhäuser verlegt werden. "Weitere werden folgen", sagte Werner am Mittwoch. Sachsen hat die Verlegung von 20 Corona-Intensivpatienten beantragt, wie das Gesundheitsministerium mitteilte. In den nächsten Tagen werden zudem voraussichtlich 50 Corona-Intensivpatienten aus Bayern in andere Bundesländer verlegt. "Die Planungen laufen", sagte der Nürnberger Branddirektor Marc Gistrichovsky, der die Planungen koordiniert.
Sondervideokonferenz geplant
Innerhalb eines Kleeblatts soll es indes aus Baden-Württemberg Verlegungen geben. Laut dem Koordinator der Corona-Intensivversorgung im Südwesten, Götz Geldner, handelt es sich um je drei Kranke aus Karlsruhe und Pforzheim. Anfragen innerhalb des "Kleeblatts Südwest" (Baden-Württemberg, Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz) liefen.
Bund und Länder wollen über das Vorgehen bei Patientenverlegungen beraten. Dazu ist an diesem Donnerstag eine Sonder-Videokonferenz der Gesundheitsminister angesetzt, wie die Deutsche Presse-Agentur am Mittwoch aus Regierungskreisen erfuhr.
Es ist das erste Mal seit Beginn der vierten Corona-Welle, dass bundesweite Verlegungen über dieses Verfahren organisiert werden. Das 2020 beschlossene Konzept sieht vor, dass zunächst innerhalb der fünf Regionen - West, Nord, Ost, Süd, Südwest - verlegt wird. Gibt es in einer dieser Regionen absehbar keine freien Plätze mehr, wird die Verlegung auch in andere Gebiete organisiert.
Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg laut Robert Koch-Institut (RKI) weiter auf nun 404,5 - nach 399,8 am Vortag und 319,5 vor einer Woche. Am höchsten ist sie in Sachsen (935,8), Thüringen (721,6) und Bayern (644,3), am niedrigsten in Schleswig-Holstein (148,8). Bundesweit gemeldet wurden nun 66 884 neue Infektionen binnen eines Tages.
Neue 3G-Schutzregeln in Kraft
Für Beschäftigte gilt ab sofort die 3G-Regel für den Zugang zu Betrieben. Firmen müssen das auch kontrollieren. Ungeimpfte, die nicht von zu Hause arbeiten, müssen dafür einen tagesaktuellen Schnelltest oder einen maximal 48 Stunden alten PCR-Test vorlegen. Nachweise als Geimpfte, Genesene oder Getestete brauchen nun auch Fahrgäste in Bussen, Bahnen und von Deutschland startenden Flugzeugen - Ausnahmen gibt es für Kinder. Das geänderte Infektionsschutzgesetz, das diese Neuregelungen vorsieht, soll am 9. Dezember in einer Bund-Länder-Runde überprüft und gegebenenfalls nachgeschärft werden.
Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hält ein Vorziehen von Entscheidungen für möglich. "Wir werden früher handeln müssen. Wir sehen ja, dass in Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen die Lage sehr ernst ist", sagte der CDU-Politiker der "Rheinischen Post". Schärfere Maßnahmen für Veranstaltungen, Bars, Clubs müssten geprüft werden. In mehreren Bundesländern gelten bereits 2G-Regeln - also Zutritt nur für Geimpfte und Genesene, teils noch zusätzlich mit Test (2G plus).
Weiter Debatte um Impfpflicht
Die Impfungen nehmen weiter Fahrt auf. Am Dienstag gab es so viele Erstimpfungen wie zuletzt vor zwei Monaten: 84 478. Vollständig geimpft sind laut RKI nun 56,6 Millionen Menschen oder 68,1 Prozent aller Einwohner. Mindestens eine erste Spritze bekommen haben 58,8 Millionen Menschen (70,7 Prozent). Eine Auffrischungsimpfung haben 6,6 Millionen Menschen.
Für Soldatinnen und Soldaten ist die Impfung gegen das Corona-Virus jetzt praktisch verpflichtend. Das Verteidigungsministerium habe die Impfung für die mehr als 180 000 Männer und Frauen in der Bundeswehr duldungspflichtig gemacht, sagte ein Sprecher des Ministeriums.
SPD-Kanzlerkandidat Scholz sprach sich für eine Corona-Impfpflicht in bestimmten Einrichtungen mit Risikogruppen aus. "Impfen ist der Ausweg aus dieser Pandemie", sagte er am Mittwoch in Berlin. "In Einrichtungen, in denen besonders vulnerable Gruppen betreut werden, sollten wir die Impfung verpflichtend machen. Eine Ausweitung dieser Regelung bleibt zu prüfen."
"Es kann nicht so bleiben, wie es ist"
Bundespräsident Steinmeier rief noch einmal nachdrücklich zur Impfung auf. Man habe die Mittel zur Hand, um sich vor einem schweren, womöglich tödlichen Verlauf der Krankheit zu schützen, sagte er am Mittwoch in einer Rede beim digitalen Deutschen Seniorentag. "Aber zu wenige haben bisher davon Gebrauch gemacht." Offenbar mit Blick auf die Debatte über eine Impfpflicht fügte er hinzu: "Wenn alle Angebote, Bitten, Aufrufe, Appelle nicht helfen, dann sollte niemand die Politik anklagen, wenn sie schärfere Maßnahmen ergreift. Es kann nicht so bleiben, wie es ist."
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zeigte sich offen für eine allgemeine Impfpflicht. Gegenüber stark die Freiheit der gesamten Gesellschaft betreffenden Maßnahmen wie wiederkehrenden Lockdowns mit starken Kontaktbeschränkungen stelle eine Impfpflicht "das mildere Mittel dar", sagte sie der dpa. Zu klären sei aber, wie dies am besten durchgesetzt und kontrolliert werden könne.
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