Qualvoll und unethisch: Palliativmediziner kritisiert Beatmungs-Praxis in Corona-Krise
27.4.2020, 14:47 UhrHerr Thöns, Deutschland fokussiert sich dieser Tage auf Beatmung und Intensivmedizin. Über Palliativmedizin, also Sterbebegleitung, wird wenig gesprochen. Was prangern Sie konkret an?
Matthias Thöns: Ich finde es entsetzlich, dass aktuell ein Krankheitsbild, das schon immer palliativmedizinisch behandelt wurde – die Lungenentzündung am Ende des Lebens – jetzt plötzlich als zu beatmender Intensivfall gesehen wird. Und zwar ausschließlich so. Der typische Covid-19-Patient, der in einem Krankenhaus landet, ist hochaltrig und hat viele Vorerkrankungen. Wer möchte denn mit über 80 und mit schwerer Krebserkrankung am Ende seines Lebens einen Tubus im Hals haben, wenn die Sterblichkeit insgesamt bei 88 bis 97 Prozent liegt? Wenn man sieht, dass das mit dem Alter zunimmt, dann haben manche Patienten nach der Beatmung eine Überlebenschance im Promillebereich. Das ist unethische Medizin.
Beatmen oder nicht? Wie Ärzte in der Corona-Krise um Leben kämpfen
Sind Sie der Meinung, dass derzeit an deutschen Kliniken zu viel beatmet wird?
Thöns: Ja, auf jeden Fall. Es gibt die Empfehlung der Intensivmediziner, dass man frühzeitig intubieren sollte. Da melden sich jetzt zunehmend international kritische Stimmen. Wir sollten, so wie das immer in der Medizin war, erst auf sanftere Methoden setzen, etwa die Sauerstoffgabe. Es kann nicht sein, dass man da jetzt mit der schwersteingreifenden Form der Therapie, also der invasiven Beatmung, auf vielfach vorerkrankte alte Menschen losgeht.
Sind alte Menschen, die an Covid-19 erkranken, denn überhaupt zu retten?
Thöns: Ja, Einzelfälle rettet man natürlich. Daten aus Wuhan zeigen, dass 97 Prozent an der Beatmung starben. In den USA wurde erst kürzlich im Journal oft the American Medical Association (JAMA) eine große Untersuchung publiziert, dort wurden 5700 Fälle ausgewertet – die Sterblichkeit lag bei 88 Prozent. Das sind aber alle Patienten. Ein Grundprinzip der Medizin ist, dass mit steigendem Alter die Überlebenschancen sinken.
Und: Wir wissen, wenn man Menschen zwei oder drei Wochen beatmet, sind sie hinterher nicht fit. Ein Großteil hat schwere Organschäden, psychische Störungen und geistige Störungen wie bei einer Demenz. Selbst die wenigen Überlebenden haben also teils schwere Folgen. Wer beatmet werden möchte, der soll beatmet werden. Aber es braucht Aufklärung. Die Rettungschancen sind minimal und die Lebensqualität liegt anschließend meist am Boden, da muss man die Menschen fragen: Möchten Sie das? Die meisten sagen dann Nein.
Wie behandelt man einen Covid-19-Patienten palliativmedizinisch, wie erleichtert man ihm den Weg in den Tod?
Thöns: Das ist relativ simpel. Das Lindern von Atemnot ist für uns täglich Brot, 90 Prozent meiner Patienten haben das am Lebensende. Niemand muss ersticken, da gibt es einfache Strategien. Das geht über die Lagerung und Beruhigung bis hin zu Medikamenten wie Morphium, das hilft viel. Für Laien: Es gibt den Goldenen Schuss, wenn man Heroin deutlich überdosiert. Da hat man so wenig Lust zu atmen, dass man es nichtmal merkt, wenn man ganz aufhört. Das ist, wenn man so will, ein glücklicher Tod.
Welche Rolle spielen finanzielle Anreize, etwa wenn es um Beatmung und die Dauer der Intubation geht?
Thöns: Naja, man muss sagen: Nach den ersten Katastrophenbildern aus Italien hätte ich als Politiker auch so entschieden und versucht, das Land intensivmedizinisch zu wappnen. Wir müssen schauen, dass wir besser sind und keine Alterstriage-Situation bekommen, das finde ich auch entsetzlich. Die erste Aufrüstung war daher nicht verkehrt. Aber auch wenn wir die Beatmungsgeräte haben, müssen wir bei den normalen Prinzipien der Medizinethik bleiben.
Was wir in Deutschland und international seit vielen Jahren sehen: In Regionen, in denen es viele Herzkatheterlabore gibt, werden viele Katheter gemacht, dort, wo es viele Wirbelsäulenoperateure gibt, wird viel an der Wirbelsäule gemacht und bei vielen HNO-Ärzten gibt es viele Mandelentfernungen. Die Differenzen sind lokal gewaltig. Wenn die Krise vorbei ist, stehen viele Beatmungsgeräte herum und Betten müssen gefüllt werden. In Zukunft werden dann Menschen, die sonst friedlich gestorben wären, auf der letzten Wegstrecke noch einmal für 14 Tage beatmet. Das ist qualvoll.
Befürchten Sie das für die Zeit nach der Corona-Krise?
Thöns: Ja. Jetzt läuft es schon völlig quer. Die erste in Deutschland Verstorbene war eine 89-Jährige, da möchte ich doch nicht mehr beatmet werden, oder? Ich nicht. Mein Vater ist gestern gestorben und er wollte auch keine Maximaltherapie.
Welche Rolle spielen die Angehörigen? Braucht es, gerade was Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten angeht, mehr Aufklärung?
Thöns: Sie sind ganz wichtig. Ich würde es für klug halten, wenn Menschen jetzt mit ihren Eltern sprechen, wenn sie in einem hohen Alter und mit Vorerkrankungen belastet sind. Das hat mich persönlich auch entlastet zu wissen, wie mein Papa da tickt.
Und was kann die Politik auf struktureller Ebene tun?
Thöns: Mutig sein – und beispielsweise Patientenverfügungen aktiv empfehlen, wie das Kanzleramtsminister Helge Braun kürzlich getan hat. Wir müssen nur nach Willen und Therapieziel behandeln. Vor zwei Jahren wurden systematisch Organspendeausweise verschickt. Warum will die Politik jetzt nicht, dass etwa in den Pflegeheimen der Wille ermittelt wird? Das wäre extrem hilfreich.
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