Schulstart: "Lehrer wollen im September nicht wieder die Deppen sein"
16.7.2020, 06:00 UhrWenn nicht, hat das bayerische Kultusministerium drei weitere Szenarien entwickelt, und sie alle setzen eines voraus: eine hohe Eigenverantwortung der Schulen. Das kommt einem Kulturwandel in der Bildung gleich. Ein Gespräch mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann über berechtigte Erwartungen, ungerechtfertigte Ansprüche und dem verstaubten Modell des Nürnberger Trichters.
Zuerst einmal möchte ich Sie um eine Einschätzung bitten, Stichwort "Regelbetrieb nach den Sommerferien".
Simone Fleischmann: Der Schulstart ist für uns mit vielen Fragezeichen versehen. Nehmen wir mal an, im September startet die Schule tatsächlich so, wie wir sie vor dem 15. März kannten. In diesem Fall lauten die Fragen: Wie sieht die undurchsichtige Personaldecke aus und was bringt jedes einzelne Kind nach der langen Krisenzeit mit?
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Fangen wir bei den Kindern an. Sie alle haben ein halbes Jahr hinter sich, in dem das Leben anders verlief. Wenn wir im September wieder wie gehabt möglichst viel Wissen möglichst schnell à la Nürnberger Trichter in sie oben reinstopfen, dann wird das nicht funktionieren. Weil die Lernstände noch mal um ein Vielfaches heterogener und differenzierter sind, wie ohnehin schon. Das bedeutet: Eine Lehrkraft kann selbst im Regelbetrieb definitiv nicht so starten, wie das Jahr zuvor.
Was meinen Sie mit undurchsichtiger Personaldecke?
Simone Fleischmann: Da gibt es drei Variablen. Aber eines vorweg: Wir als Gesellschaft, also wir Eltern, Politiker und Pädagogen müssen fair und ehrlich starten entsprechend der Bedingungen allgemein und vor Ort. Ich habe kürzlich mal gesagt: Wir können nur das leisten, was wir sind und wie viele wir sind. Wir werden es definitiv nicht schaffen, bis zu den Herbstferien alle Kinder wieder auf Linie zu bringen. Mit dieser Erwartungshaltung müssen wir aufräumen. Nun zur ersten Variablen, und das ist die Risikogruppe.
"Wir können nicht in die Glaskugel schauen"
In einem kürzlich hier erschienenen Interview sprach Kultusminister Michael Piazolo im Hinblick auf Risikogruppen unter den Lehrkräften von "geringen Prozentsätzen".
Simone Fleischmann: Aktuell hatten wir im Schnitt zwölf Prozent. Weil wir nicht wissen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt, werden wir aber erst kurz vor Schulbeginn sagen können, welches Personal für den Präsenzunterricht tatsächlich zur Verfügung steht. Wir können nicht in die Glaskugel schauen.
Die zweite Variable ist: Im Januar war die Rede von 1400 Stellen, die im September im Grund-, Mittel- und Förderschulbereich fehlen werden. Da ist jetzt einiges unternommen worden, leider auch all die Maßnahmen, gegen die wir vor kurzem noch protestiert haben, unter anderem die eine Stunde Mehrarbeit im Arbeitszeitkonto. Trotzdem habe ich aus einem Telefongespräch mit dem Minister herausgehört, dass es insgesamt ein schwierigerer Start ins neue Schuljahr wird, was das Potenzial an Lehrkräften angeht.
Die dritte Variable sind die zusätzlichen schulbegleitenden Förderangebote für Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten haben. Das ist ohne Frage sinnvoll. Aber das bedeutet auch noch mal mehr Individualisierung und Differenzierung. Allein in den Begriffen steckt, dass extra Klein- und Intensivierungskurse von Schulen eingeplant werden müssen - und da wird mir Angst und Bang. Das Personal für diese notwendige Förderung haben wir definitiv nicht. Der Fachmarkt ist leergefegt.
Krise änderte alles
Eine Schulleitung hat mir mal gesagt, dass sie sich alleingelassen fühlt mit der Umsetzung der unzähligen und kurzfristigen Maßnahmen des Kultusministeriums. Stimmen Sie dem zu?
Simone Fleischmann: Ja. Das ist der Kern der ganzen Diskussion: Wie ernst meint es die Politik mit der seit Jahren diskutierten Eigenverantwortung der Schule vor Ort. Das, was Ihre Schulleitung erzählt, ist das, was wir in ganz Bayern erleben. In einer weltweiten Katastrophensituation war auf einmal der Schulleiter vor Ort gefragt, der mutig, kreativ, spontan und kompetent mit seinem Team und in Kooperation mit Eltern, Sachaufwandsträgern und auch noch den ÖPNVs die Krise meistert. Einige haben auch so gehandelt. Aber die meisten konnten mit Beginn der Krise den Schalter nicht einfach umlegen. Denn: Bis dato – ich war selbst zwölf Jahr lang Schulleiterin – waren wir gewohnt, alles schön brav als Staatsdiener umzusetzen, was von oben kam. Dann kam die Krise, und die war für uns alle neu. Wir mussten in einen leeren Raum agieren.