Vor 75 Jahren: Briten verhaften letzte Nazi-Regierung

Dominik Mayer

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20.5.2020, 05:57 Uhr
Drei Nazi-Größen direkt nach ihrer Verhaftung durch britische Soldaten am 23. Mai 1945 in Flensburg. Der ehemalige Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer (links), Hitlers Nachfolger Karl Dönitz (Mitte) und Alfred Jodl (rechts), Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wurden gemeinsam abgeführt.

© picture alliance / dpa Drei Nazi-Größen direkt nach ihrer Verhaftung durch britische Soldaten am 23. Mai 1945 in Flensburg. Der ehemalige Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer (links), Hitlers Nachfolger Karl Dönitz (Mitte) und Alfred Jodl (rechts), Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wurden gemeinsam abgeführt.

Für die Weltöffentlichkeit endete das Dritte Reich am 23. Mai 1945 im Hinterhof des Flensburger Polizeipräsidiums. Drei Männer, die lange Jahre in dem Glauben gelebt hatten, sich die Welt politisch, ideologisch und militärisch untertan machen zu können, erlebten dort den Beginn ihrer Kriegsgefangenschaft. Die Festnahme von Karl Dönitz, Albert Speer und Alfred Jodl wurde von den Briten als Medienereignis inszeniert. Weil sich Adolf Hitler und Joseph Goebbels jeweils durch Selbstmord ihrer historischen Verantwortung entzogen hatten, gab es für die Alliierten bis dato kaum wirkmächtige Bilder, die das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft illustrierten.

Also versammelte man im engen Innenhof des Präsidiums Journalisten aus aller Welt, um die Gefangennahme von Reichspräsident Dönitz, des ehemaligen Reichsministers Speer und des Kommandochefs der Wehrmacht Jodl sorgfältig dokumentiert zu wissen. Mehrmals mussten die Männer, unter ebenso lautstarkem wie vergeblichem Protest, das Tor zum Innenhof durchschreiten – bis alle Fotografen mit ausreichend Bildmaterial versorgt waren.


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Dönitz, Jodl und der letzte Oberbefehlshaber der Marine, Hans-Georg von Friedeburg, waren bereits am Morgen auf ein Passagierschiff, das den Siegermächten als Quartier diente, gerufen und darüber informiert worden, dass sie sich von nun an als Kriegsgefangene zu begreifen hätten. Nur das Kofferpacken gestatteten die Alliierten noch. Von Friedeburg nutzte dieses Entgegenkommen in einem unbeobachteten Moment zum Suizid mittels Zyankalikapsel. Speer, den britische Soldaten während seiner morgendlichen Rasur auf Schloss Glücksburg festgenommen hatten, musste von Friedeburg daher für das Presseschauspiel am Polizeipräsidium ersetzen.

Kurz zuvor hatten die Briten bereits die Enklave Mürwik eingenommen, in der die personellen Restbestände der Führung des Dritten Reiches seit Anfang Mai gehaust hatten. Der sieben Kilometer lange und zwei Kilometer breite Küstenstreifen entlang der Flensburger Förde diente der Reichsregierung Dönitz seit den ersten Maitagen als Hoheitsgebiet. Bis eine große Zahl britischer Soldaten dem Spuk am 23. Mai ein Ende setzte. Eine Panzerbrigade nahm die mehreren Tausend Menschen – Beamte und Wehrmachtssoldaten – die sich noch auf dem Gelände aufhielten, fest.

Bizarre Kabinettssitzungen

Was sich seit dem 3. Mai auf dem etwa 14 Quadratkilometer großen Gebiet abgespielt hatte, darf getrost als in dieser Form einmalige Politposse bezeichnet werden. Das "Tausendjährige Reich" war zum "Wurmfortsatz" geschrumpft, wie es der Historiker Gerhard Paul formuliert. Dönitz, lange Oberbefehlshaber der Marine, den Hitler in seinem Testament als seinen Nachfolger auserkoren hatte, versammelte in der Marineschule Mürwik eine vollkommen machtlose Reichsregierung um sich.


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Diese stand personell und ideologisch in bruchloser Tradition mit dem Nationalsozialismus unter Hitler. Im Kabinett Dönitz fanden sich ausschließlich einschlägig vorbelastete NS-Größen wie Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk, SS-Einsatzgruppenführer Otto Ohlendorf oder Ernährungsminister Herbert Bracke. Während die Reichsregierung Dönitz in der ersten Maiwoche noch als Ansprechpartner für die Alliierten in Fragen der bevorstehenden deutschen Kapitulation eine praktische Daseinsbegründung besaß, wurde sie mit dem 8. Mai vollkommen obsolet.

Dennoch traf man sich jeden Vormittag um zehn Uhr zu inhaltlich bizarren Kabinettssitzungen. Dönitz und seine Minister erwogen ein neues deutsches Hoheitszeichen, diskutierten die Ernennung eines Kirchenministers und flüchteten sich in abenteuerliche Vorstellung über den juristischen oder tatsächlichen Fortbestand des Dritten Reiches.

Darüber, warum die Siegermächte dem Treiben in Mürwik nach der Kapitulation nicht umgehend Einhalt geboten haben, gibt es nur Vermutungen. Offenbar sah man vor allem auf britischer Seite die Möglichkeit, Dönitz‘ Verwaltungsapparat könnte sich bei der Abwicklung der NS-Strukturen und der Wehrmacht noch als nützlich erweisen.

Wiederholt hatte auch Heinrich Himmler versucht, sich Dönitz anzudienen, sich gar als zweiter Mann im Staate ins Spiel gebracht. Nachdem Dönitz Himmlers Ambitionen abschlägig beschieden hatte, versuchte der ehemalige Reichsinnenminister unterzutauchen. Es sind seine letzten Tage. Gemeinsam mit fünf Gefolgsleuten verlässt Himmler am 11. Mai Flensburg. Verkleidet als Feldwebel Heinrich Hitzinger – entsprechende Dokumente hatte ihm Dönitz‘ Behördenapparat zur Verfügung gestellt – will er in den Harz flüchten. Von dort aus, so der Plan, könnte er zu einem späteren Zeitpunkt Richtung Alpen weiterziehen.

"Ihm blieb nur der Selbstmord"

Doch das Vorhaben Himmlers, der als einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust und die millionenfache Ermordung Unschuldiger gilt, scheitert. Britische Soldaten an einem Kontrollposten nahe Bremervörde enttarnen den Massenmörder am 21. Mai und nehmen ihn fest. "Dass ihm aus seiner Sicht nur noch der Selbstmord blieb, wird ihm in diesen Stunden klargeworden sein", schreibt der Historiker Peter Longerich in seiner Himmler-Biografie. Die kaum zu ermessende Schwere seiner historischen Schuld, das muss Himmler bewusst gewesen sein, konnte vor einem Gericht der Besatzungsmächte nur die Todesstrafe bedeuten.

Diesem Urteil kam er zuvor. Als er befürchtete, die Briten würden den Versuch unternehmen, die in seinem Mund versteckte Zyankalikapsel zu entfernen, entschloss sich Himmler zuzubeißen. Das Leben des Mannes, der es mit Terror und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum nach Hitler zweitmächtigsten Mann im NS-Staat gebracht hatte, endete am 23. Mai 1945.

Vor 75 Jahren: Briten verhaften letzte Nazi-Regierung

© Foto: SNEP/ AFP

Während Himmler unbestreitbar zu den schlimmsten Schergen der an skrupellosen Akteuren reichen NS-Zeit gehörte, gilt dieses Urteil für Karl Dönitz in dieser Absolutheit nicht. Zweifellos war Dönitz überzeugter Nationalsozialist und ein glühender Anhänger Hitlers. "Das deutsche Volk verdankt unserem Führer schlechterdings alles, alles", rief er im Januar 1944 seinen Marinesoldaten zu. Loyalitätsbekundungen dieser Art waren bei ihm keine Seltenheit. Dazu war es Großadmiral Dönitz, der noch Ende April 1945 junge Marinesoldaten in einen völlig aussichtslosen Kampf um die Reichshauptstadt Berlin schickte.


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Andere halten ihm dagegen zugute, die Flucht von Millionen Soldaten und Zivilisten aus den Ostgebieten ermöglicht zu haben, die so der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entgingen. Außerdem befürwortete er schließlich die bedingungslose Kapitulation Deutschlands – obwohl etwa Himmler und Jodl darauf verwiesen hatten, dass man in den Niederlanden, Norwegen und Dänemark noch größere Truppenkontingente unter Waffen hätte und mit diesen den Krieg fortführen könnte. "Die Absicht, einen langfristig militärisch aussichtslosen "heroischen Endkampf" zu führen, ist bei Dönitz nicht evident", schreibt der Politologe Klause Hesse in seiner Chronik über das Dritte Reich nach Hitler.

Kein unwissender Militär

Haben die Alliierten am 23. Mai also einen weitgehend untadeligen Militär verhaftet? Einen Soldaten, der in preußischer Tradition pflichtbewusst seinen Dienst verrichtete und von den Perversitäten und Abgründen des NS-Regimes gar nicht gewusst haben konnte? Mitnichten. Obwohl Dönitz in der sechziger und siebziger Jahren in zahlreichen Publikationen dieses apologetische Bild von sich und seinem Handeln zeichnete und eine Legende in eigener Sache zu stricken versuchte. Das Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg hatte ihn zuvor wegen der Durchführung von Angriffskriegen und Kriegsverbrechen zu zehn Jahren Haft verurteilt. "Er ist damit, wie Speer, recht gut weggekommen", resümiert Axel Fischer vom Memorium Nürnberger Prozesse.

Nach der medienwirksamen Verhaftung im Hinterhof des Flensburger Polizeipräsidiums brachten britische Soldaten den Reichspräsidenten zu einem Flensburger Flugplatz. Von dort aus wurde Dönitz in die Kriegsgefangenschaft ins luxemburgische Bad Mondorf verbracht. In seiner Ausgabe vom 4. Juni 1945 stellte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" mit Blick auf das Ende der Phantomregierung Dönitz trocken fest: "The strange show at Flensburg was over."

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