Was wir über den Terror in Halle wissen - und was nicht

dpa

11.10.2019, 09:02 Uhr

Nach dem Terrorangriff auf eine Synagoge in Halle sitzt der mutmaßliche Todesschütze in Untersuchungshaft. Der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof erließ am Donnerstagabend Haftbefehl gegen den 27-jährigen Deutschen Stephan B. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm zweifachen Mord und versuchten Mord in mehreren Fällen vor. Nach Einschätzung der Ermittler wollte der mutmaßliche Attentäter ein Massaker anrichten und Nachahmer zu ähnlichen rechtsextremistischen und antisemitischen Taten anstiften. Es bleiben jedoch viele Fragen.

Im Fokus steht dabei, "ob Personen in die Vorbereitung oder Durchführung des Anschlags eingebunden waren oder im Vorfeld Kenntnis hiervon hatten", wie die Bundesanwaltschaft am Donnerstagabend erklärte. Bisher fehlten "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" dafür, dass der Beschuldigte an eine rechtsterroristische Vereinigung angebunden gewesen sei oder ein sonstiger Zusammenhang mit einer solchen Vereinigung bestehe. Die Ermittlungsbehörden sprechen bislang von einem Einzeltäter. Am Donnerstagabend erklärte das Bundeskriminalamt, dass es die Ermittlungen übernommen habe.

Netzwerk oder Einzeltäter?

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, kritisierte den Begriff "Einzeltäter". Damit werde seit Jahrzehnten versucht, die Öffentlichkeit nach rechten Anschlägen zu beruhigen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Opferberatungen machten schon lange "auf die rechten Netzwerke und den braunen Sumpf aufmerksam, aus dem all die Täter kamen". Rechte Gewalt sei nicht zu trennen von rechter Ideologie und deren gesellschaftlicher Verbreitung. "Wie viele Einzeltäter sollen denn noch ihr Unwesen treiben, bevor endlich die Einzeltäterthese beerdigt wird?", fragte Korte.


Jüdische Gemeinden in der Region investieren in Sicherheit


Stephan B. war am Mittwoch festgenommen worden, nachdem vor der Synagoge eine 40-Jährige aus Halle und in einem nahe gelegenen Döner-Imbiss ein 20 Jahre alter Mann aus Merseburg erschossen worden waren. Zuvor hatte der Täter vergeblich versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. 51 Menschen hielten sich zu dem Zeitpunkt in dem Gotteshaus auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Jom Kippur. Auf der Flucht verletzte der Täter zudem eine 40 Jahre alte Frau und deren 41 Jahre alten Mann mit Schüssen. Das Paar wird im Krankenhaus behandelt.

Ein Bekennervideo in sozialen Netzwerken zeigt den Ablauf der Tat aus der Perspektive des Attentäters - von der vergeblichen Erstürmung der Synagoge über die tödlichen Schüsse bis zur Flucht. Das Video diente den Ermittlern auch zur Rekonstruktion des Ablaufs der Tat. Zudem legte der Täter in einem elf Seiten langen "Manifest" seine Gedanken dar. Der Text liest sich stellenweise wie die Anleitung zu einem Computerspiel, in dem Dokument wimmelt es vor antisemitischen Begriffen.

Sprengsätze mit Chemikalien im Auto

Bei dem Angriff führte der Täter nach Angaben von Generalbundesanwalt Peter Frank vier Schusswaffen mit sich. Es sei zumindest eine vollautomatische Schusswaffe dabei gewesen, zudem habe er auf der Fahrt zur Synagoge mehrere Sprengsätze im Auto gehabt. In Speziallaboren werde nun untersucht, um was für Chemikalien es sich handele, hieß es aus Sicherheitskreisen. Geklärt werden soll auch, ob der Sprengstoff selbst zusammengerührt wurde und woher etwaige Kenntnisse dafür stammen.

Unklar ist bislang auch, woher die Einzelteile stammen, aus denen der mutmaßliche Täter die Waffen zusammenbaute. Nach einem Bericht des ZDF-Magazins "Frontal 21" soll er bei seiner Tat auch Waffen bei sich getragen haben, die teilweise mit 3D-Druckern hergestellt worden waren. Dafür gab es zunächst keine Bestätigung.

Mutmaßlicher Attentäter war unauffällig

Der mutmaßliche Attentäter war nach Angaben der Sicherheitsbehörden zuvor nicht mit anderen kriminellen Handlungen aufgefallen. Obwohl bekannt sei, dass es in Deutschland rund 24.000 Rechtsextremisten gebe und etwa die Hälfte davon gewaltbereit sei, habe ihn offenbar kein Sicherheitsorgan "im Rahmen des normalen Systems" auf dem Schirm gehabt, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner". Um ähnliche Fälle künftig ausschließen zu können, brauche es neue Techniken, mehr internationale Zusammenarbeit und eine Überprüfung des eigenen Rechtsrahmens "im Sinne von Effektivität". Bürgerrechte dürften dafür aber nicht infrage gestellt werden.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprach von einer "neuen Qualität des Rechtsextremismus". Die weltweite Bestürzung über die Tat ist groß. An diesem Freitag sind in Halle weitere Gedenkveranstaltungen geplant.


Kommentar zu Halle: Wir brauchen Versöhnung statt Hass


"Ich empfinde ohnmächtige Wut", schrieb der empörte Publizist und Historiker Rafael Seligmann in einem Gastbeitrag für die "Rheinische Post" (Freitag): Seit Jahrzehnten sei er Zeuge von antijüdischen Anschlägen in Deutschland. "Danach erscheinen Politiker auf der Bildfläche. Sie sprechen von Trauer und versichern, wie wichtig ihnen das Wiederentstehen jüdischer Gemeinden in Deutschland ist. Und es geschieht nichts oder zumindest zu wenig."

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) versprach in Halle, die Bundesregierung werde alles tun, damit "die Juden in unserem Land ohne Bedrohung, ohne Angst leben können". Kanzlerin Angela Merkel (CDU) brachte im Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ihre tiefe Betroffenheit über den antisemitischen Anschlag zum Ausdruck, wie eine Regierungssprecherin mitteilte. Merkel habe deutlich gemacht, dass Deutschland fest zu seiner historischen Verantwortung stehe, jüdisches Leben zu schützen. Die Bundesregierung werde den Kampf gegen den Antisemitismus entschlossen fortsetzen.