"Nachts höre ich die Schüsse"

Auch Corona spielt eine Rolle: Deshalb steigt die Mordrate in den USA drastisch

7.11.2021, 05:56 Uhr
Liebe statt Kugeln: Eine junge US-Amerikanerin protestiert gegen die Waffengewalt in ihrem Land.  

© imago images/Pacific Press Agency Liebe statt Kugeln: Eine junge US-Amerikanerin protestiert gegen die Waffengewalt in ihrem Land.  

Ein Sonntagnachmittag in einem Park am Rande von Downtown Oakland. Mehrere Pfarrer und eine Pfarrerin verschiedener Gemeinden haben sich mit rund 50 Gläubigen versammelt, um der mehr als 100 Menschen zu gedenken, die in diesem Jahr in Oakland bereits ermordet wurden.

Es sind vor allem Afro-Amerikaner, die hier stehen, sie hoffen auf Unterstützung, um die Welle der Gewalt in Oakland zu durchbrechen. Viele kennen sich, sind Angehörige von Ermordeten. Eine Frau mittleren Alters hat ein Gemälde ihres erschossenen Sohnes mitgebracht, hält es immer wieder hoch. "Praise the Lord", ruft sie. Andere treten zu ihr, umarmen sie kurz, fest, still.

500 Schießereien jährlich

Als ich 1999 nach Oakland zog, war es normal, dass pro Jahr mehr als 100 Menschen ermordet wurden. 2006 lag die Zahl bei 146. In der Stadt wurde wie wild geballert, nahezu 500 Schießereien jährlich wurden gezählt. In jedem Wahlkampf ums Bürgermeisteramt ging es auch und vor allem um die Bekämpfung der Gewalt. 2014 kandidierte Libby Schaaf. Sie suchte ganz gezielt die Nähe der afro-amerikanischen Community in Oakland. Auch deshalb wurde sie gewählt, sie machte es zur Chefsache, die hohen Mordzahlen zu reduzieren.

An einem Montagnachmittag erreiche ich Libby Schaaf per Zoom. Hinter der Bürgermeisterin liegt ein Wochenende, an dem fünf Menschen ermordet wurden. Kurz vor meinem Anruf erhielt sie Nachricht vom 100. Mord in diesem Jahr. Ich spüre, dass sie das nicht unberührt lässt. "Das ist unerträglich, gerade auch, weil Oakland gezeigt hat, dass es anders geht." Lange Zeit galt die Stadt als zweit- oder drittgefährlichste Kommune Amerikas. Unter ihr, betont Schaaf, sei Oakland aus den Top Ten verschwunden.

Oakland hat einen "Chief of Violence Prevention", einen Gewaltpräventionsdirektor, der vom Titel her dem "Chief of Police", dem Polizeipräsidenten gleichgestellt ist. Mit Guillermo Cespedes holte sich Schaaf einen der wohl besten Gewaltexperten der USA nach Oakland. Ein Mann, der zuvor erfolgreich das Gang-Problem in Los Angeles angegangen war.

Für Cespedes ist klar, dass die derzeit erneut steigenden Mordraten in den amerikanischen Städten ein Zusammenspiel vieler Faktoren sind. Und dass eigentlich eine ganz andere Diskussion geführt werde müsste. Cespedes spricht vom tief verwurzelten systemischen Rassismus in den USA, davon, wie Nachbarschaften in East- und West-Oakland zu lange schon benachteiligt, unterversorgt und vergessen wurden.

Dann kam die Pandemie, sie verstärkte die Probleme wie durch ein Brennglas. Auf einmal hatten jene, die auf den Straßen präventiv und vermittelnd eingriffen, keinen Zugang mehr. Schulen und Freizeiteinrichtungen wurden geschlossen, Mütter und Väter verloren ihre Jobs, wurden auf Kurzarbeit gesetzt oder mussten zuhause, in meist beengten Verhältnissen, arbeiten.

Die Spannungen stiegen, erst recht nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020. Und das in einem Wahljahr, in dem Amtsinhaber Donald Trump davor warnte, die Demokraten würden im Falle eines Wahlsiegs den Amerikanern die Waffen wegnehmen. Wie in jedem Wahljahr führte das zu Rekordkäufen von Schusswaffen und Munition. Die Folge: Es knallte. Deutlich und überall.

950 Schusswaffen beschlagnahmt

2019 wurden in Oakland 78 Morde gezählt, 2020 109. In diesem Jahr fiel diese Marke bereits Anfang Oktober. Zum Vergleich: Nürnberg, das mit über 500 000 Einwohnern sogar etwas größer ist als Oakland, zählte 2020 drei Mordfälle. Bis Mitte Oktober beschlagnahmte die Polizei in Oakland 950 Schusswaffen.

Aus dem Polizeipräsidium Mittelfranken heißt es dagegen auf Anfrage: "Die Sicherstellung von 'scharfen' Schusswaffen spielt in Nürnberg zahlenmäßig eine eher untergeordnete Rolle. Die Anzahl der in Nürnberg sichergestellten inkriminierten scharfen Schusswaffen bewegt sich im einstelligen Bereich von drei bis vier pro Jahr."

Ich treffe Glen Upshaw in einem Park an der Ecke Sunnyside und 98th Avenue. Hier und in den anliegenden Straßen kommt es immer wieder zu Schießereien. Glen, 58 Jahre alt, ist "Violence Interruption Manager" für Youth Alive!, eine Organisation, die an den Hotspots Präventivarbeit betreibt, um Gewalt und Gegengewalt zu stoppen.

Auch er sagt deutlich, die Gewalt habe zugenommen. "Wir hatten Kinder, die konnten nicht einfach von der Schule nach Hause gehen, es sei denn sie schlossen sich einer Gang an, fast so, wie es in LA üblich gewesen ist."

Die meisten der Streetworker leben in den Nachbarschaften, sind dort aufgewachsen und haben selbst ihre Erfahrungen mit Gewalt, Gegengewalt, mit Polizei und Justiz gemacht. Auch Upshaw ist vorbestraft. Oakland sei derzeit alles andere als sicher. "Das hier ist wie der Dschungel, es ist schon schwer, manchmal zu Fuß unterwegs zu sein."

"Ghost guns" überfluten derzeit die Innenstädte im ganzen Land: Schusswaffen, die einfach im 3D-Drucker gedruckt oder in Einzelteilen mit der Post verschickt werden und ohne Probleme zusammengesetzt werden können. "Not traceable”, nicht registriert. Da helfen auch keine strengen lokalen Gesetze, wie sie in Oakland existieren: Hier gibt es keinen "Gun Store", niemand darf eine Waffe mit sich führen.

Nach dem Treffen mit Glen laufe ich los, will sehen, wie das hier in den "Flatlands" ist, nur etwa eineinhalb Kilometer Luftlinie von meinem Zuhause in den Oakland Hills. Auch ich höre nachts immer wieder Schüsse, aber aus sicherer Entfernung. Hier hingegen spielt es sich ab – auf den Straßen, vor den Wohnungen, auf dem Schulweg von Kindern, in Parks, vor Corner Stores. Und immer wieder trifft es Unbeteiligte. Am International Boulevard starb in der Nacht zuvor ein 40-jähriger Mann. Am Tatort ein "Memorial": Kerzen, Blumen, Luftballons, Bilder, letzte Grüße auf Zetteln.

"Ich habe so viele Leute um mich herum verloren"

Was macht das mit einer Community, mit Kindern, die auf dem Schulweg an solchen Tatorten vorbeilaufen? Tag für Tag. Die ein, zwei, mehrere Opfer von Gewalt und Mord kennen. Die nachts von Schüssen aufwachen. Eine Kommune wie Oakland kämpft nicht nur gegen die soziale Ungleichheit, gegen Waffengewalt, sondern auch gegen ein tief verwurzeltes Trauma.

"Ich habe so viele Leute um mich herum verloren", erzählt mir Antoine Towers. Er ist der Vorsitzende der "Oakland Violence Prevention Coalition", einer gemeinnützigen Organisation, die ebenfalls irgendwie versucht, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Sein Bruder, ein Cousin, ein Neffe, mehrere Freunde. Alle ermordet. "Das ist ein Kreislauf, ein Trauma, das ich nicht los werde."

Manche kriegen die Kurve, viele stürzen ab

Der 42-Jährige sagt, dass die Gewalt schon immer ein Teil dieser Community war. Seit Generationen. Es habe nur niemanden außerhalb jener Stadtteile interessiert. Die Jungen wachsen in diesem Umfeld auf. Manche kriegen die Kurve, viele stürzen ab, werden kriminell, Gang-Mitglieder.

Ein Diner an der Ecke Broadway und 3rd Street, in der Nähe des Jack London Squares. Marilyn Harris Washington wartet auf mich. Sie ist etwa 60 Jahre alt. Vor einigen Jahren hat sie ihren einzigen Sohn verloren. Er war mit Freunden auf der Straße, saß auf seinem Fahrrad, als jemand das Feuer eröffnete. Der 18-jährige Khadafy Washington war schon tot, als er auf dem Boden aufschlug, das sagte ihr später die Polizei. Zwei Monate zuvor hatte er seinen High-School-Abschluss gemacht, wollte aufs College gehen. Khadafy träumte davon, Football-Profi zu werden.

Marilyn Harris Washington gründete die Khadafy-Washington-Stiftung. Sie will im Namen ihres Sohnes anderen Familien helfen, die dasselbe durchleben mussten. Sie schätzt, sie war in all den Jahren auf mehr als 2000 Beerdigungen. Allein in Oakland. Und doch: "Ich bin davon überzeugt, dass wir alles meistern können, wenn wir wollen", sagt Marilyn Harris Washington zum Abschied.


Mehr persönliche Eindrücke und Beobachtungen unseres Amerika-Korrespondenten Arndt Peltner finden Sie unter seiner Rubrik: "Mein Amerika".

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