Schmerz und Anerkennung machen süchtig
Sportler sollten diese Warnsignale ihres Körpers ernst nehmen
22.10.2021, 09:38 UhrEigentlich ist Sport gesund, er macht Spaß macht und entspannt. Wenn Mediziner von den positiven Auswirkungen berichten, finden sie kaum ein Ende. Wer aber so exzessiv Sport treibt, dass er nicht mehr aufhören kann, schadet seinem Körper.
So ging es etwa der Autorin und Bloggerin Yavi Hameister: "Ich laufe in den Park, die gleiche Strecke wie jeden Tag seit vielen, vielen Wochen. Der Schmerz kribbelt in meinem Schienbein, noch bevor ich den ersten Kilometer geschafft habe. Ich kenne dieses brennende, fast unerträgliche Gefühl zu gut; es ist immer da, wenn ich laufe. Doch ich darf nicht abbrechen. Ich muss mindestens 600 Kalorien verbrennen, bevor ich nach Hause gehe. Also läuft der Schmerz mit. Jeden Tag."
Diese Anfangspassage aus Hameisters Buch "Bis es weh tut" zeigt, wozu exzessives Sporttreiben führen kann - man setzt die Gesundheit aufs Spiel. Bei der Autorin rührte der Schmerz von einer chronischen Knochenhautentzündung im Schienbein her, zu der es durch Überbelastung gekommen war.
Trainieren wird zur Zwangshandlung
"Körperliche Signale wie Schmerz zu ignorieren, ist ein Indiz für Sportsucht", berichtet der Sportpsychologe Heiko Ziemainz von der Uni Erlangen-Nürnberg. "Im Einzelfall kann es dazu kommen, dass sich jemand die Ferse bis auf den Knochen durchläuft."
Für Menschen, die so stark übertreiben, ist Sport das Gegenteil von Vergnügen: Sie arbeiten zähneknirschend ein Programm ab, um Entzugserscheinungen zu vermeiden und sich nicht schlecht zu fühlen. "Wie Alkoholiker, die ihren Stoff nicht bekommen, können sie sonst aggressiv werden", sagt Ziemainz.
So wird Trainieren zur Zwangshandlung, der die Betroffenen immer stärker verfallen – mit der Folge, dass häufig Familie und Freunde vernachlässigt werden. Gefährdet sind tendenziell Menschen, die wenig Selbstbewusstsein haben und zu Perfektionismus neigen, erklärt der Psychologe. Wird Sport nur um seiner selbst willen getrieben, handelt es sich um eine "primäre Sportsucht", die Ziemainz zufolge eher selten vorkommt.
Sehr viel häufiger ist die sekundäre Sportsucht, die zusammen mit weiteren Problemen – vor allem mit Essstörungen – auftritt. Dabei wird Sport instrumentalisiert, um Ziele wie eine Gewichtsabnahme zu erreichen. Eine weitere Störung ist die "Muskeldysmorphie", bei der sich die Betroffenen – meist jüngere Männer – intensiv mit ihrem Aussehen und dem Muskelaufbau beschäftigen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Phänomenen sind allerdings fließend.
Jeder hunderste Sportler ist anfällig
Genaue Angaben dazu, wie häufig Sportsucht vorkommt, gibt es nicht. Das liegt schon daran, dass sie nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt ist, sondern allgemein zu den stoffungebundenen Verhaltenssüchten zählt. "Man kann sagen, dass etwa jeder hundertste Sportler erste Auffälligkeiten zeigt", schätzt die Sportpsychologin Jana Strahler von der Uni Freiburg. "Wirklich behandlungsbedürftig ist aber wahrscheinlich nur jeder Zehntausendste."
Ebenfalls offen ist, ob das Phänomen zunimmt. Befragungen von Wettkampf- und Hobby-Läuferinnen durch die Uni Leipzig haben ergeben, dass die Bindung an den Sport während der Corona-Krise eher abgenommen hat. "Das Ergebnis hat auch uns überrascht", sagt Nadja Walter, Sportpsychologin an der Uni Leipzig. "Wahrscheinlich liegt es daran, dass in dieser Zeit andere Dinge in den Vordergrund gerückt sind: Homeoffice, Kinderbetreuung und die Sorge um die Gesundheit."
Sport wirkt angstlösend und antidepressiv
Landläufig wird Sportsucht gern damit erklärt, dass Betroffene von den Glückshormonen abhängig werden, die der Körper beim Training ausschüttet. Der Zusammenhang ist aber unklar. "Ob es beim normalen Sporttreiben überhaupt zu einer nennenswerten Ausschüttung von Neurotransmittern kommt, ist fraglich. Da braucht es schon einen Marathon", sagt Jana Strahler. Viele erleben das Gefühl aber auch schon bei Strecken über 10 oder 15 Kilometern Distanz. "Klar ist, dass Sport angstlösend und antidepressiv wirkt." Diese Wirkung machen sich manche Betroffene offenbar gezielt zunutze.