Schulleiter Michael Richter
Corona: "Wir dürfen nicht zwangsläufig von verlorenen Schuljahren reden"
18.7.2021, 05:50 UhrDer gebürtige Kronacher Michael Richter (56) ist seit 2004 Leiter der privaten Grund- und Mittelschule Liebfrauenhaus in Herzogenaurach. Träger ist das Seraphische Liebeswerk in Altötting, die Schule firmiert als staatlich anerkannte „Ersatzschule“ und hat alle pädagogischen und staatlichen Anforderungen zu erfüllen, die auch an staatlichen Grund- und Mittelschulen gelten.
In einem Elternbrief haben Sie kürzlich die Frage gestellt, ob die Schülerinnen und Schüler nach 14 Monaten Unterricht unter Pandemie-Bedingungen zwangsläufig Bildungsverlierer sind. Was ist ihre Antwort?
Die Antwort ist zunächst, dass ich glaube, dass die bisher gegebenen Antworten, so wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen waren, fast ausschließlich defizitorientiert und nicht differenziert sind.
Was meinen Sie damit?
Es geht um Schlagzeilen wie: „600 verlorene Unterrichtsstunden“ oder Berichte wie „Distanzunterricht so effektiv wie Sommerferien!" Wir hatten keinen Unterrichtsausfall, sondern Distanzunterricht, und die Studie befasst sich mit weltweiten Auswirkungen von Schulschließungen im Frühjahr 2020, publiziert über ein Jahr danach, als der Distanzunterricht sich schon wesentlich weiterentwickelt hatte. Erst am Ende war zu lesen, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich die Online-Lehre vielerorts verbessert habe.
Medien transportieren viele Stimmungen und Aussagen, die Ihnen zugetragen werden, etwa von Politikern, Wissenschaftlern, Schülern, Lehrerverbänden. Das ergibt ein vielstimmiges Meinungspuzzle.
Welche Inhalte transportieren solche Meldungen, inwiefern werden sie der Schulwirklichkeit wirklich gerecht und vor allem: Was bewirken sie? Ich bemerke eine schiefe öffentliche Wahrnehmung, zu der die Medien beitragen, aber eben viele anderen Akteure auch.
Was genau ist schief bei der Beurteilung?
Zunächst einmal: Ich rede hier ausschließlich über Auswirkungen der Pandemie auf den Bereich Schule - also Lernen, Schulleben, grundlegende Kompetenzen. Ja, diese Pandemie hat uns zunächst vor riesige Probleme gestellt. Aber wie hätte es anders sein sollen? Niemand war darauf vorbereitet.
Wie im heimischen Umfeld auch, kamen auch bei uns soziale Kontakte, Spaß, Ablenkung, Gemeinschaft zu kurz - aber wir dürfen nicht zwangsläufig von verlorenen Schuljahren reden: „Lernen“ fand sehr aktiv und intensiv statt, Kompetenzen wie Selbstorganisation und Medienkompetenz wurden gestärkt und selbst der direkte persönliche Bezug zu den Schülern konnte durch Videotools sehr gut gehalten werden.
Sprechen Sie von Ihrer Schule?
Es geht nicht um unsere Schule - es geht um die Situation an vielen Schulen und es gibt gute Beispiele, bei denen auch wir schon seit langem abschauen. Es zeigt sich, dass Schulen, die sich vor der Pandemie dem differenzierten, selbst gesteuerten Lernen geöffnet hatten, nun sehr davon profitierten. Verbunden mit der Konzentration auf Kernfächer und Basiswissen und dem Motto „Weniger ist mehr“ führte dies dazu, dass wir im letzten Elternbrief schreiben konnten, dass wir sehr gut und erfolgreich durch dieses Schuljahr gekommen sind und alle Beteiligten stolz darauf sein können.
Was bedeutet es, sich auf Kernfächer konzentriert zu haben?
Im täglichen Distanzunterricht zwischen 8 und 13 Uhr hatten wir möglichst wenige Lehrerwechsel, wodurch längere Lern- und Arbeitsphasen entstanden, in denen vor allem die grundlegenden Themen in den Kernfächern behandelt wurden. Wichtige Themen der Sachfächer verlegten wir sehr häufig in längerfristige Projektaufgaben mit abschließenden Präsentationen.
Aber verloren ging letztlich doch etwas?
Wirklich? Wir wissen alle, wie viel Detailwissen auch im herkömmlichen Unterrichtsbetrieb nur kurzzeitig verfügbar ist und dann wieder verloren geht - oder kennen Sie noch die sieben Kurfürsten? Wir nehmen das seit Schülergenerationen klaglos hin. Jetzt konnten und mussten Schüler sich wirklich aktiv und selbstständig mit Unterrichtsinhalten befassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Inhalte sicherer verfügbar sind und viele Kompetenzen dazugewonnen wurden. Sich selbst organisieren, gemeinsam durch die Krise gehen, das gegenseitige Bemühen, technische Probleme zu lösen, soziale Kontakte kreativ aufrechtzuerhalten: Dort, wo es gut gelaufen ist, hat die Pandemie neue Lernerfolge ermöglicht, das haben wir nicht zuletzt für uns als Kollegium erfahren.
Dem bayerischen Kultusministerium wurde immer mal wieder vorgeworfen, widersprüchliche Entscheidungen zu treffen.
Auch für das Ministerium ist es nicht einfach, in solch einer Pandemie zu agieren, aber es gab mitunter sehr kurzfristige, widersprüchliche Meldungen. Große schriftliche Leistungsfeststellung abzuschaffen, um den Schülern ein stressfreies Ankommen und Arbeiten zu ermöglichen, gleichzeitig aber mündliche und schriftliche Abfragen zuzulassen, widerspricht sich in meinen Augen genauso, wie von sehr gut vorbereiteten Abschlussschülern zu sprechen, die die Prüfungen auf einem weiterhin hohen Niveau sehr fair ablegen können, um dann wenige Tage später von Lernrückständen bei den Schülern durch den Distanzunterricht zu sprechen, denen man u.a. mit einer Sommerschule begegnen will.
Sie finden eine Sommerschule unpassend?
Wir in unserer Schule bieten Sie zumindest nicht an. Was bringen einige Tage mehr Unterricht in den Sommerferien? Wie sollen Drittkräfte in dieser Zeit aufholen, was vermeintlich an Defiziten das Schuljahr über aufgetreten ist, also Lehrerinnen und Lehrer nicht geschafft haben? Dieser gut gemeinte Ansatz des Ministeriums ist letztendlich auch eine Geringschätzung unserer Professionalität, denn wenn es so einfach wäre …
Wie sollen Lernrückstände denn dann aufgeholt werden?
In der Frage steckt ein großes Problem der Wahrnehmung von schulischem Lernen durch große Teile der Politik und Gesellschaft: Wir gehen immer noch davon aus, mit relativ homogenen Schülergruppen in ein Schuljahr zu starten, die wir gleich unterrichten und am Ende erreichen hoffentlich alle die Lehrplanziele. Die Wirklichkeit sieht aber so aus, dass die Schüler jeder Klasse vom ersten Schultag in jedem Fach unterschiedlich viel können - darauf muss Unterricht eingehen! Auf Ihre Frage bezogen heißt das: Wir machen im September unaufgeregt und möglichst individuell dort weiter, wo wir im Juli aufhören und im Idealfall können wir auf zusätzliches Personal zum Fördern und Differenzieren zurückgreifen.
Was sollte aus dem Distanzunterricht weiter Anwendung finden?
In dieser absoluten Form hoffentlich nichts. Nichts geht über die direkte Begegnung, den gemeinsamen Spaß, Ablenkung, Gemeinschaft. Aber Lernen ist ein individueller, aktiver Prozess und nicht zwangsläufig das Ergebnis von Lehren und diese eigene Aktivität war in den zurückliegenden Monaten sicher höher. Das gilt es aufzugreifen und auszubauen. Individuelle Onlineübungen, Recherchen, Präsentationen und Mediennutzung einzelner Schüler z.B. im Wochenplanunterricht sind durch die nun vorhandenen Laptops in fast allen Klassen möglich.
Manche genervte Eltern waren einfach nur froh, als die Kinder wieder in den Präsenzunterricht mussten oder durften.
Das ist absolut verständlich und war bei uns Lehrkräften ja nicht anders - aber: Wichtig ist auch, dass die Zeit des Distanzlernens nicht als Defizit in Erinnerung bleibt. Alle Beteiligten haben einfach viel geleistet, gelernt und sollen mit Zuversicht aus dieser Situation herausgehen.
Im Programm „gemeinsam.Brücken.bauen“ des Kultusministeriums sind Binnendifferenzierung und „individuelle Förderung“ wichtige Eckpunkte.
Wie bereits erwähnt: Das sind entscheidende Unterrichtsgrundsätze und deshalb ist es begrüßenswert - aber eben dauerhaft und nicht aktionistisch zum Aufholen vermeintlicher Lücken. Man wird sehen, was daraus wird. Solche Programme brauchen entsprechendes Personal und ich bin gespannt, woher das kommen soll. Es ist schon jetzt kaum möglich, genügend qualifiziertes Personal für die Pflichtfächer zu bekommen. Wie auch immer: Wir wären sofort mit am Start. Wir wünschen uns jetzt erst einmal, dass sich Schüler, Eltern und Lehrer nach einem anstrengenden Schuljahr in den Ferien gut erholen können.
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