2. Mai 1971: Reelle Chancen für jeden

2.5.2021, 07:33 Uhr
2. Mai 1971: Reelle Chancen für jeden

© Barth

Jede Art von sozialer Provokation soll vermieden werden. Wer in den finsteren Baracken lebt, wohnt auf dem Papier schlicht und unverfänglich in der Neumeyerstraße. Das sind rund 245 Personen, davon 140 Kinder. Weitere 107 Familien mit 127 Kindern leben in dem vom einstigen Luftgaukommando im II. Weltkrieg errichteten Verwaltungsbau des Lagers. Und schließlich sind schon vor einigen Monaten 104 Familien mit 375 Kindern in die neugebaute Nachbarschaft I gezogen, ein 2,75-Millionen-Mark-Wohnblock-Projekt.

„Es gibt keinen besonderen Härtefall mehr im Schafhoflager. Jedem, der dieses Milieu verlassen will, wird eine reelle Chance geboten, die allerdings sehr häufig nicht wahrgenommen wird“, meint der Chef des Nürnberger Sozialamtes, Heinrich Ries. 98 Prozent aller Familien sind durch eigenes Verschulden dort gelandet, wegen Mietschulden und wegen mietschädigendem Verhalten in ihren früheren Wohnungen.

Die letzten Baracken aus den zwanziger Jahren werden bis Mitte nächsten Jahres modernen Neubauten weichen, einem zeitgerechten Obdachlosen-Asyl, in dem sogar Bäder selbstverständlich sind. Das Projekt Nachbarschaft II kostet rund 4,2 Millionen DM. Hier werden vorwiegend Fünf- und Sechs-Zimmer-Wohnungen errichtet, mit denen vor allem den kinderreichen Familien geholfen werden soll, aus dem „Sumpf“ herauszukommen.

Denn das ist der Kern des Obdachlosen-Problems: Familien mit vier und mehr Kindern haben es in einer kinderfeindlichen Gesellschaft schwer, eine entsprechende Wohnung zu bekommen. Zwar geben sich die großen Baugesellschaften teilweise sozial. Doch diese Einstellung endet auch dort nicht selten dann, wenn die Familie des Antragstellers eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern überschreitet. „Die großen Bauträger könnten wesentlich mehr tun“, meint der stellvertretende Leiter der städtischen Obdachlosenfürsorge, Klaus Kerger, wehmütig.

Es sind ganz selten finanzielle Gründe, die Familien zu Obdachlosen degradieren. 41 Prozent der Barackenbewohner beziehen ein monatliches Netto-Einkommen von 1.100 bis über 2.000 DM. Mehr als die Hälfte von ihnen hat allerdings zwischen drei und sechs Kinder zu ernähren, zehn Prozent haben sogar mehr als sieben Kinder. Weitere 33 Prozent der Familien beziehen zwischen 600 und 1.100 DM monatlich.

Bei der Beschaffung einer neuen, angemessenen Wohnung könnte außerdem das Wohngeld sehr viel weiterhelfen. Nur: wer will schon eine neun- oder zehnköpfige Familie im Haus haben, die zudem noch aus dem Obdachlosen-Asyl kommt.

In den zurückliegenden zehn Jahren wurden über das Sozialamt mehr als 1.000 Familien vom Schafhoflager in ordentliche Wohnungen vermittelt. Und man hat, von geringen Ausnahmen abgesehen, beste Erfahrungen mit ihnen gemacht. Die Betroffenen tun alles, um nicht wieder zurück in die Neumeyerstraße zu müssen.

Die neu errichteten Wohnblocks in der Nachbarschaft I sind, wenn auch modern gebaut, ihrer Bestimmung nach ebenfalls Obdachlosen-Unterkünfte. Es sollte ein erster Versuch sein. Das Ergebnis: die Stadt hat sich damit abgefunden, daß diese Blocks nicht nur vorübergehend von den Familien belegt sein werden, wie dies das Obdachlosen-Recht versieht.

Aus diesem Grund wurden vor allem die großen Wohnungen nachträglich mit Bädern ausgestattet (in den Plänen der Nachbarschaft II sind sie bereits vorgesehen). In diesen vorwiegend Fünf- und Sechs-Zimmer-Wohnungen sollen die kinderreichen Familien eine Bleibe finden, denen wegen der hohen Kopfzahl bisher der Zugang zu freifinanzierten und Sozialwohnungen versperrt geblieben war. Immerhin haben 46 Prozent aller im Schafhoflager lebende Familien vier und mehr Kinder.

Viele Bewohner haben sich bereits damit abgefunden, im Schafhoflager ihr Leben zu beschließen. Sie wollen gar nicht mehr aus dem Lager heraus. Und wenn ihnen eine neue Wohnung angeboten wird, so scheitert das Unternehmen meist an den zu hoch geschraubten Ansprüchen der Bewohner. Man will dann gleich eine riesige Luxuswohnung, die zudem noch sehr billig sein muß. Im Lager wurde eine Monatsmiete von einer Mark pro Quadratmeter festgesetzt.

Dazu das Sozialamt: „Es zahlt aber kaum jemand.“ Pro Kopf sind jedem Familienmitglied zwischen sieben und acht Quadratmeter zugemessen. Und das aus gutem Grund: beengte Wohnverhältnisse und mangelnder Komfort sollen die Betroffenen veranlassen, sich nach einer normalen Wohnung umzuschauen. Und wer trotz wiederholter Anstrengungen keinen Erfolg hat, dem versucht das Sozialamt zu helfen.

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