28. Juli 1970: Trautes Heim im Bleiweißviertel

S. R.

28.7.2020, 07:00 Uhr
28. Juli 1970: Trautes Heim im Bleiweißviertel

© NN

Der ehemalig städtische Hausbesitz, den die WBG verwaltet, beläuft sich auf 63 Häuser oder 322 Wohnungen. Sie alle sind sanierungsbedürftig. Hinzu kommen wahre Elendsquartiere, die dem Liegenschaftsamt angehören, wie die Behausung des 59 Jahre alten Arved.

Die Wände seines Zimmers leiden an unheilbarer Wassersucht. Sie sind von nikotinbrauner Farbe, fleckig und voller Risse. Kein Nagel hält mehr. Und doch hängt da ein Bild an der Wand mit dem Spruch „Die Sonne lacht auch dir“.

28. Juli 1970: Trautes Heim im Bleiweißviertel

© NN

Unter dem Fenster hat der Este ein großes Brett gegen die Wand gelehnt. Wer es entfernt, entdeckt die Nässe. Die Wand sieht so unappetitlich aus, daß man sie schnell wieder hinter dem Brett versteckt. Die Türe schließt nicht mehr, und wenn der Zimmerbewohner sich einsperren will, stützt er einen Knüppel unter die Klinke. Der Wasserhahn trieft ständig. Fünf Mietparteien teilen sich das Trockenklo auf dem Hof, mit einem Deckel, der früher zu einer Mülltonne gehörte.

Von der Decke hängt eine alte Gasfunzel, schon lange nicht mehr in Betrieb. Im Winter zieht‘s vom undichten Fenster durch das Zimmer und durch den breiten Schlitz unter der Tür. – In dem 16 Quadratmeter großen Raum lebte Arved seit 20 Jahren zusammen mit seiner greisen Mutter. Alles, was sie ihm nach ihrem Tode vor zwei Jahren hinterließ, sind ein paar Stofftiere, zwei Puppen und Blumen aus Kunststoff.

Arved war früher Kranführer, bis ihm bei einem Verkehrsunfall beide Unterschenkel brachen. Heute ist er Mitarbeiter eines privaten Wachunternehmens, bekommt unregelmäßig Aufträge und einen Stundenlohn von 2,60 DM. Dafür steht er dann meistens nachts irgendwo und bewacht irgend etwas. Dazu bekommt er 94 DM Invalidenrente. Er ist starker Raucher und trinkt manchmal billigen Alkohol. Er gibt auch zu, daß er Schulden hat, private Schulden und Verbindlichkeiten aus den Prozessen, die er nach seinem Unfall führte. Er sagt, er sei in einer Lage, aus der man mit eigenen Kräften nicht mehr herauskommt.

Die Stadt kennt die Verhältnisse. Aber in den Anstrengungen, Menschen aus menschenunwürdigen Behausungen zu befreien, kommt das als so dynamisch gepriesene Nürnberg einfach nicht nach.

Der Bericht vom Gebäude- und Wohnungsbestand in Nürnberg vom Dezember 1964 registrierte, daß damals 22 Prozent aller Gebäude, 8116 Häuser oder 53.048 Wohnungen für 151.241 Menschen erneuerungsbedürftig waren. Eine große Anzahl der vorwiegend in Privatbesitz befindlichen Gebäude taugt nur zum Abreißen. 

In 16.400 Wohnungen gibt es anno 1970 noch kein WC, 24.000 Wohnungen werden durch Kohleöfen geheizt. Arved J. sollte trotz solch katastrophaler Zahlen die Hoffnung nicht aufgeben. Die Stadt will das Grundstück in der Bleiweißstraße aufräumen und neue Gebäude hinstellen. Aber hoffentlich hat die Hausbewohnerin unrecht, die meinte: „Natürlich will die Stadt, aber das will sie schon seit Jahren.“