Drogentote: Nürnberg ist bundesweit trauriger Spitzenreiter

7.11.2019, 05:54 Uhr
Tatsächlich ist die Zahl der Drogentoten in diesem Jahr im Stadtgebiet Nürnberg alarmierend: 23 Menschen sind seit 1. Januar 2019 an einer Überdosis gestorben, drei Frauen und 20 Männer.

© Spencer Platt/AFP Tatsächlich ist die Zahl der Drogentoten in diesem Jahr im Stadtgebiet Nürnberg alarmierend: 23 Menschen sind seit 1. Januar 2019 an einer Überdosis gestorben, drei Frauen und 20 Männer.

Thomas H. stand schon öfter am Abgrund. Erleben möchte er das nicht noch einmal. Deshalb wartet er hier, auf dem Flur im Haus 19 der Suchtambulanz im Klinikum Nürnberg, mit anderen Patienten, bis die Türe aufgeht. Er bekommt dann einen Becher mit Flüssigkeit, Methadon, ein Drogenersatzmittel, um von der Heroinsucht wegzukommen. "Wenn es diese Therapie nicht gäbe, wäre ich längst schon tot", sagt der 59-Jährige. Zweieinhalb Jahre ist er jetzt "sauber".


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Mit 13 Jahren raucht er den ersten Joint, mit 16 setzt der Herzogenauracher sich die erste Heroinspritze. Seinen Weg auf dem Gymnasium bricht er ab, macht mittlere Reife und lernt Erzieher. Doch Heroin und andere Drogen wie Amphetamine, Kokain und Benzodiazepine treiben ihn immer näher an den Abgrund, es folgt die Arbeitslosigkeit, er wird kriminell, klaut, um an Geld für Drogen zu kommen. Jahrzehntelang dreht sich sein Leben nur darum: Wie komme ich an Geld, wie an den Stoff. Bitter, erzählt H., seien die vielen Toten. "Ich habe in den zurückliegenden Jahren 15 Freunde verloren, die an einer Überdosis starben", sagt er. Drei alleine schon in diesem Jahr.

Zehn Abhängige starben im öffentlichen Raum

Tatsächlich ist die Zahl der Drogentoten in diesem Jahr im Stadtgebiet Nürnberg alarmierend: 23 Menschen sind seit 1. Januar 2019 an einer Überdosis gestorben, drei Frauen und 20 Männer. Zehn von ihnen starben im öffentlichen Raum, in Toiletten, in Parks und auf Spielplätzen. Die übrigen 13 ließen in privaten Räumen ihr Leben. Im kompletten vergangenen Jahr waren es 15 Drogentote in Nürnberg. "In dieser Hinsicht nimmt unsere Stadt bundesweit eine traurige Spitzenposition ein", beschreibt es Norbert Kays, Drogenbeauftragter der Stadt. Nur in den Jahren 2014 (27) und 2015 (26) lag die Zahl der an Rauschmittel verstorbenen Menschen in Nürnberg höher. Man müsse davon ausgehen, dass es in diesem Jahr aber nicht bei den 23 Drogentoten bleibt.

Bis Ende 2018 informierte die Polizeipressestelle noch die Öffentlichkeit und die Medien über jeden einzelnen Fall eines Menschen, der durch Drogenkonsum das Leben verlor. Seit Anfang 2019 informiert sie darüber nicht mehr. Warum? "Eine zurückliegende Beschwerde von Angehörigen eines Drogentoten, die durch die Berichterstattung identifizierbar wurden, führte dazu, dass seitens des Polizeipräsidiums Mittelfranken keine Pressemeldung mehr verfasst wird. Hinzu kommt, dass auch ein Verstorbener postmortalen Persönlichkeitsschutz genießt", heißt es in einem Schreiben der Polizeipressestelle.

Lebenswichtige Organe versagen

Über die Zahl der Drogentoten werden laut Polizeipressestelle aber weiterhin Drogenhilfen wie "Lilith e. V"., "Mudra", "Hängematte" sowie der Drogenbeauftragte der Stadt informiert. Norbert Kays hat eine Vermutung, was unter anderem zu der vergleichsweise hohen Zahl an Drogentoten geführt hat: "Acht der Verstorbenen waren beispielsweise kurz vor ihrem Tod aus der Haft entlassen worden. Da liegt das Problem. Denn nach einer zwischenzeitlichen Abstinenz im Gefängnis ist der Körper entwöhnt. Wer dann in Freiheit sich wieder einen Schuss setzt, muss damit rechnen, dass das der Körper nicht mitmacht und lebenswichtige Organe versagen. Vor allem, wenn der Stoff einen hohen Reinheitsgrad hat", erklärt der Drogenbeauftragte.

Hinzu kommt der Mischkonsum von Rauschmitteln, wenn etwa Alkohol, Heroin und Cristal Meth innerhalb kurzer Zeit hintereinander eingenommen werden. "Gefährlich sind auch die Streckmittel, die den Opiaten beigemischt werden", sagt Professor Thomas Hillemacher, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nürnberg.

Bei den Heroinabhängigen stelle sein Institut, dem auch die Suchtambulanz angegliedert ist, eine deutliche Verschiebung in der Altersstruktur fest. "Früher sahen wir in unserer Ambulanz eher die 20- bis 30-Jährigen. Mittlerweile liegt das Durchschnittsalter bei rund 50 Jahren." Er führt das auf die "erfolgreiche Substitutions-Behandlung mit Methadon" zurück.

Streitthema Drogenkonsumräume

Hillemacher, der vor kurzem noch in Hannover praktizierte, bedauert, dass die bayerische Staatsregierung bis heute Drogenkonsumräume im Freistaat verhindert. "In Hannover haben wir damit gute Erfahrungen gemacht, wenn Abhängige kontrolliert Drogen konsumieren können. Man kann ihnen steriles Besteck geben, die Ansteckungsgefahr durch Hepatitis und HIV ist geringer. Außerdem hat man Kontakt zur Szene und kann die Betroffenen eventuell für das Substitutionsprogramm gewinnen."


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Der Chefarzt steht mit der Forderung nicht alleine da: Der Bayerische Ärztetag plädierte jüngst einstimmig dafür, "bayernweit Drogenkonsumräume zuzulassen und den notwendigen Personalaufwand staatlicherseits zu fördern".