S-Bahn-Tragödie: Jetzt sprechen die Väter der getöteten Jugendlichen

31.7.2019, 11:59 Uhr
S-Bahn-Tragödie: Jetzt sprechen die Väter der getöteten Jugendlichen

© Foto: Michael Matejka

Es gibt wohl nichts Schlimmeres für Eltern, als ein Kind zu verlieren. Die Eltern von Frederik und Luca gehen seit sechs Monaten durch diese Hölle: Am 26. Januar mussten ihre Söhne sterben, weil sie am S-Bahnhof Frankenstadion ins Gleisbett gestoßen wurden.

Zwei Jugendliche, die als Ministranten aktiv waren und von Kindesbeinen an beim Turn- und Sportverein Heroldsberg Fußball spielten, zuletzt in der A-Jugend. Zwei 16-Jährige, die ihre Zukunft noch vor sich hatten. "Die beiden haben sich sozial engagiert, sie waren nette, freundliche Menschen", betont Frederiks Vater, und es ist nicht das übliche Lob, das viele Eltern für ihre Kinder finden. Denn während andere Familien in diesen Tagen, in Heroldsberg und anderswo, die Ferien mit ihren Kindern genießen, warten sie auf ein Strafverfahren, das den Tod ihrer Söhne rekonstruieren soll.

Wir sitzen in einem Besprechungsraum im Nordosten der Stadt, in der Kanzlei von Wolfgang Wittmann und Benjamin Schmitt. Die Väter von Frederik und Luca haben um dieses Gespräch gebeten, mit ihren Rechtsanwälten werden sie als Nebenkläger auftreten.

Anklage erhoben

Gerade erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen zwei 17-Jährige Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge, und seit dieser Vorwurf öffentlich wurde, schlagen im Internet die Wellen der Empörung hoch: "Zu lasch" sei die Justiz, kommentieren Facebook-Nutzer. Einige meinen, die Erklärung für das entsetzliche Geschehen zu kennen – der Migrationshintergrund der Beschuldigten. Seit dem Vorfall sitzen die beiden 17-Jährigen in U-Haft. Sie haben zwar die deutsche Staatsangehörigkeit, doch stammen ihre Familien aus Griechenland und der Türkei.

Über Schuld, Unschuld und die juristische Einordnung von Verbrechen wird im Rechtsstaat bekanntlich nicht via Facebook abgestimmt – die Väter distanzieren sich von der pauschalen Hetze. Ihre Kritik ist differenziert und detailliert, und weit entfernt von Bewertungen, die sich auf Daumen-hoch- und Daumen-runter-Symbolik reduzieren. Diese Väter, die durch ein sinnloses Verbrechen ihre Söhne verloren haben, wahren Haltung und wehren sich dagegen, dass das Verbrechen an ihren Söhnen von Populisten missbraucht wird.

"Wir treten für eine multikulturelle Gesellschaft ein, daran wollen wir keinen Zweifel lassen", betont Frederiks Vater und ergänzt: "Beim Tuspo Heroldsberg spielen und trainieren neben Deutschen auch Sportler anderer Nationalitäten, miteinander, und friedlich."

In jener Nacht vom 25. auf den 26. Januar warteten Frederik und Luca gegen Mitternacht am Bahnsteig Frankenstadion auf die S-Bahn, mit Freunden hatten sie eine Diskothek besucht. Aus "nichtigem Anlass" sei es plötzlich zu "tumultartigen körperlichen Auseinandersetzungen" gekommen, hieß es vor wenigen Tagen in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. In verschiedenen Medien wurde über einen "tödlichen Streit" berichtet.

Formulierungen, die bei den Eltern auf Unwillen stoßen. Sie sind überzeugt: Am Gleis spielten sich keine "Tumulte" ab, und auch kein Streit mit wechselseitigen Schubsereien, in deren Verlauf es dem Zufall geschuldet ist, wer ins Gleisbett fällt, wer zum Opfer und wer zum Täter wird. "Unsere Jungs und ihre Freunde wurden aggressiv angegangen. Frederik und Luca haben versucht, zu schlichten." Ein Angriff sei keine Schlägerei, so die Väter. In ihrem 60-seitigen Schlussbericht wertet die Kripo die Tat als Totschlag.

"Körperverletzung mit Todesfolge klingt verharmlosend. Das hört sich nach einer Prügelei an, an deren Ende die Opfer versehentlich ins Gleisbett fallen", sagt der Vater von Frederik. Und Lucas Vater ergänzt: "Der Tod unserer Kinder ist keine Folge unglücklicher Umstände. Sie wurden gestoßen."

Es gibt ein Überwachungsvideo vom Bahnsteig von jener Nacht. Einige der Jugendlichen, die am Bahnsteig standen, filmten das Gleisbett nach der Tat. Doch selbst wenn die Bilder den Ermittlern helfen, eine Tat zu rekonstruieren, stellt sich noch immer die Frage, ab wann ein Täter den Tod seines Opfers riskierte.

"Die Jugendlichen standen doch nicht auf einer grünen Wiese. Sie warteten alle am Bahngleis auf eine S-Bahn – es war doch schon deshalb klar, dass jederzeit ein Zug ein- oder durchfahren kann", sagt Rechtsanwalt Schmitt. Er kann die rechtliche Einordnung der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen.

Vorsatz laut Anklage nicht nachzuweisen

Die Argumentation der Anklagebehörde: Die S-Bahn, auf die alle Beteiligten warteten, sollte erst gut zehn Minuten später abfahren. Deshalb sei den Beschuldigten nicht nachzuweisen, dass sie beim Schubsen mit einem herannahenden und durchfahrenden Zug rechneten.

"Wer jemanden in ein Gleisbett stößt, nimmt den möglichen Tod billigend in Kauf – selbst wenn gar kein Zug einfährt. Luca und Frederik hätten schließlich auch unglücklich fallen und mit dem Kopf gegen das Gleis stürzen können", halten die Anwälte dagegen. Die Väter ergänzen: "An einem Bahnsteig muss man immer damit rechnen, dass auch ein außerplanmäßiger Zug, der nicht zwingend hält, vorbeifährt. Und das wissen auch 17-Jährige."

Die Jugendkammer I des Landgerichts Nürnberg-Fürth hat nun darüber zu entscheiden, ob sie die Anklage zulässt. Der Strafrahmen für Körperverletzung mit Todesfolge reicht von drei bis zu zehn Jahren. Die Höchststrafe für Totschlag liegt im Jugendrecht bei zehn Jahren.

Sollten die Richter während der Beweisaufnahme eine Verurteilung wegen Totschlag für denkbar halten, können sie dies per "richterlichem Hinweis" mitteilen.

"Wie dieses Verbrechen am Ende des Strafverfahrens und der Beweisaufnahme juristisch bewertet wird, ist offen. Wir wollen uns auch gar keine juristische Einordnung anmaßen", betonen die Väter.

Ihnen geht es wie den meisten Geschädigten von Straftaten. Sie glauben, dass vor Gericht der Staatsanwalt auf ihrer Seite steht – viele nehmen sich deshalb keinen Anwalt. Doch die Wahrheit ist: Opfer von Gewalt- oder Sexualverbrechen stehen nicht im Mittelpunkt des Strafprozesses. Und der Staatsanwalt ist auch nicht der Anwalt des Opfers. Die Ankläger müssen belastende und entlastende Umstände gleichermaßen ermitteln und zum Beweismaterial gehört, grob formuliert, auch das Opfer. Es ist Zeuge des Rechtsbruchs und wird nur gebraucht, um Informationen zur Tat zu gewinnen. Der Staat ahndet nicht die persönliche Verletzung von Verbrechensopfer Max Mustermann, sondern die Verletzung der Gesetze.

Die meisten Opfer akzeptieren dies. Um mit den Folgen einer Gewalttat fertigzuwerden, geht es kaum einem um die Höhe der Strafe oder ums Geld – es sei denn, die Existenz ist ruiniert. Was die Vergewaltigten, Misshandelten, Geschlagenen und Betrogenen eint, ist der Wunsch, dass sich der Staat ihrer annimmt.

Kampf um Würde

Doch die Familien in Heroldsberg müssen seit dem Tod ihrer Söhne um ihre Würde kämpfen: In den Tagen nach dem Unglück belagerten Journalisten und Fernsehteams die 8500 Einwohner zählende Marktgemeinde, filmten, befragten und fotografierten ohne Distanz und Pietät die trauernden Menschen. "Und wir mussten eine Beerdigung organisieren, zu der 1000 Menschen kamen", sagen die Väter. Überdies kursierte plötzlich ein Handy-Video im Internet, das am Gleisbett aufgenommen wurde. Die Schule bat die Eltern in Briefen, die eigenen Kinder zu sensibilisieren und entsprechendes Bildmaterial zu löschen.

In all der Zeit seien sie von der Polizei gut betreut worden, betonen die Nebenkläger. Doch es macht sie fassungslos, dass die Staatsanwaltschaft keinen Kontakt zu ihnen aufnimmt, und sie von der erhobenen Anklage nicht persönlich, sondern aus der Zeitung erfahren haben.

Sie bedauere dies sehr, betont die Sprecherin der Behörde, Oberstaatsanwältin Antje Gabriels-Gorsolke. Zwar hätten Nebenkläger keinen rechtlichen Anspruch darauf, vorab informiert zu werden, doch aus moralischer Sicht dürfe dies nicht passieren. Tatsächlich hat die Behörde die Anklageerhebung erst veröffentlicht, als die Anklage den Prozessbeteiligten bereits zugestellt war - doch das Gericht hat die Nebenkläger noch nicht zugelassen, daher erhielten sie keine Post. Weil jedoch einer der Anwälte bereits mit dem Chef der Jugendabteilung telefoniert hatte, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass die Familien informiert seien.

Die Hauptverhandlung wird aus Gründen des Jugendschutzes unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Für die Heroldsberger Familien heißt das, dass sie ihren toten Söhnen als Nebenkläger eine Stimme geben können - ohne zusätzlich belastenden Medienrummel.