Vorfälle in Nürnberg: Wenn Kinder Opfer von Familiengewalt werden

Irini Paul

NN-Lokales

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1.2.2021, 05:41 Uhr
Bei einigen Familien mit Problemen hilft ein Gespräch, andere bekommen regelmäßige Unterstützung durch das Jugendamt. Doch in manchen Fällen sind Kinder massiv gefährdet, so dass sie aus ihrer Familie genommen werden müssen. 

© Marcel Kusch, NN Bei einigen Familien mit Problemen hilft ein Gespräch, andere bekommen regelmäßige Unterstützung durch das Jugendamt. Doch in manchen Fällen sind Kinder massiv gefährdet, so dass sie aus ihrer Familie genommen werden müssen. 

Bei dem kleinen Mädchen war die Lage für die behandelnden Ärzte offensichtlich. Als sie vor ein paar Tagen das sieben Monate alte Baby untersuchten, stellten sie einen Knochenbruch fest. Die Eltern hatten berichtet, das Baby sei vier Wochen zuvor vom Sofa gefallen und seitdem immer unruhiger geworden, weshalb man nun in die Klinik gegangen sei. Doch für die Ärzte einer Nürnberger Klinik war klar, dass die Fraktur frisch und vor allem eindeutig auf Gewalteinwirkung zurückzuführen war. Die Klinik informierte das Jugendamt. Dieses nahm das Baby nach einem Hausbesuch bei der Familie in Obhut und brachte es bei einer Pflegefamilie unter.


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Die Zahl der Kinder, die in ihrem häuslichen Umfeld Opfer von Gewalt werden, steigt seit Jahren. So haben laut statischem Bundesamt die Jugendämter in Deutschland im Jahr 2019 bei rund 55.500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt – zehn Prozent oder rund 5.100 Fälle mehr als 2018. Die Zahl der Betroffenen stieg somit das zweite Jahr in Folge um 10 Prozent auf einen neuen Höchststand.

Besorgte Lehrer

Auch im Nürnberger Jugendamt gehen pro Jahr 800 bis 1000 so genannte Gefährdungsmittelungen ein. Etwa von Nachbarn, Erziehern, Ärzten oder der besorgten Lehrerin, die berichtet, dass ein Schüler trotz Kälte keine angemessene Kleidung besitzt und immer ohne Pausenbrot zur Schule kommt. Andere entdecken in der Umkleide ein Meer blauer Flecken auf dem Rücken eines Schülers und wenden sich an die Behörden. "Wir nehmen jeden Gefährdungshinweis ernst. Auch wenn wir nach Schwere und Dringlichkeit unterscheiden", wie Frank Schmidt sagt. Zum konkreten Fall des Babys äußert sich der Vizechef des Nürnberger Jugendamtes nicht.


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Bei manchen Familien hilft ein Gespräch, andere bekommen regelmäßige Unterstützung durch das Jugendamt. "Es kommt auch auf die Kooperation der Eltern an", wie Schmidt sagt. Man wolle versuchen, die Familien "mit milden Mitteln" zu unterstützen. Doch das funktioniert in manchen Fällen nicht, dann greift als letztes Mittel die so genannte Inobhutnahme durch das Jugendamt und die Kinder werden vorübergehend aus den Familien genommen. Im vergangenen Jahr war das in Nürnberg 333 Mal der Fall, im Jahr zuvor waren es noch 422 gewesen.

Bundesweit liegen bisher nur Zahlen für 2019 vor: Laut statistischem Bundesamt mussten rund 49.500 vorläufige "Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen" getroffen werden. Das waren zwar sechs Prozent weniger als im Vorjahr, doch dieser Rückgang erklärt sich aus den rückläufigen Inobhutnahmen von unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland. Immerhin mussten die Jugendämter in Deutschland 2019 über 173.000 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung prüfen - rund 15.800 mehr als im Vorjahr.

Überforderte Familien

Am häufigsten kommen neben Jugendlichen Kinder von 0 – 3 Jahren in Obhut. Sie sind am verletzbarsten, können sich nicht wehren. Sie werden am häufigsten vernachlässigt oder misshandelt. Auch bei den 14 bis 18-Jährigen spielt Vernachlässigung eine Rolle, bei manchen eskalieren pubertäre Konflikte oder sie werden aus einer anderen Einrichtung rausgeworfen, weil sie dort nicht zurechtkommen. Manche werden von der Polizei aufgegriffen, andere wenden sich selbst ans Jugendamt, weil sie es zuhause nicht mehr aushalten, wie Schmidt erläutert.


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Dass Kinder und Jugendliche psychische, körperliche Misshandlung erleiden, vernachlässigt oder Opfer sexueller Gewalt im familiären Umfeld werden, ist kein Problem einer bestimmten Schicht. "Aber die Tendenz ist schon da, dass wir häufiger Kinder in Obhut nehmen müssen, die aus mehrfach belasteten Familien stammen", so Schmidt. Psychische Probleme, Sucht, finanzielle Not oder der Druck innerhalb sehr kinderreicher Familien – die Probleme entladen sich dann bei den Schwächsten.

Kein Schicht-Phänomen

Dennoch: Sexuelle Gewalt, Prügel und Terror gehören auch in gut situierten Familien zum Alltag. "Da tun sich dann manchmal auch noch andere Abgründe auf, etwa wenn es um hochkonfliktträchtige Trennungen geht", wie es Schmidt formuliert. Das zeigt der Fall eines getrennten Paares: Über Monate verweigerte eine Mutter dem Vater den Umgang für das gemeinsame Kind. "Hartnäckig und mit absurden Begründungen", sagt Schmidt.

Das Kind saß indes zwischen allen Stühlen und wurde von seiner Mutter infiltriert und instrumentalisiert. "Irgendwann war der Leidensdruck des Kindes so groß, dass wir nicht mehr zusehen konnten." Der Fall landete vor einer Familienrichterin und am Ende mit der Auflage für die Frau, professionelle Hilfe bei der Erziehung in Anspruch zu nehmen.

Einen richterlichen Beschluss benötigt das Jugendamt auch, wenn es ein Kind in Obhut nehmen muss und die Eltern sich dagegen wehren. Wenn Gefahr in Verzug ist, ist dies zunächst auch ohne zuvor erteilten Beschluss möglich, manchmal braucht es zudem die Hilfe der Polizei. Leichtfertig werden diese Entscheidungen nicht getroffen. Es ist immer eine Risiko-Einschätzung, die getroffen werden muss. In manchen Kliniken, wie etwa der Cnopfschen Kinderklinik oder dem Klinikum Fürth, gibt es so genannte Kinderschutzgruppen. Sie arbeiten interdisziplinär: Neben medizinischem Personal sind dort auch Sozialpsychologen und Pflegekräfte eingebunden, um jeden Einzelfall sorgsam zu prüfen. Sie entscheiden gemeinsam, ob und welche Maßnahmen getroffen werden müssen.

Hohe Dunkelziffer

Bleiben all die Kinder, denen nicht geholfen werden kann, weil ihr Leid im Verborgenen bleibt. "Wir wissen natürlich, dass es eine Dunkelziffer gibt", sagt Schmidt. Bei allen anderen, die in Obhut genommen werden müssten, versuche man den Familienverband zu erhalten - wenn dies denn möglich sei.


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Gut die Hälfte der 0 bis 12-Jährigen Kinder können nach kurzer Zeit wieder in ihre Familien zurückkehren, unterstützt werden die Familien in diesen Fällen von Fachkräften der Jugendhilfe. Die übrigen Kinder und Jugendlichen bleiben bei Pflegefamilien oder wachsen in einer Einrichtung auf.

Durch die Corona-Pandemie ist die Situation für Risiko-Familien besonders herausfordernd, ob dies tatsächlich zu einem Anstieg von Gewalt gegen Kindern führt, ist nicht belegt. Experten befürchten es. So sprach der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, bereits während des ersten Lockdowns die Befürchtung aus, dass Misshandlungen nicht auffallen, weil die Kinder nicht mehr zur Schule, in die Kita oder zum Kinderarzt gehen.

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