Wegen Corona: Anstieg von häuslicher Gewalt gegen Kinder

Claudine Stauber

Lokalredakteurin Nürnberg

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15.4.2020, 21:39 Uhr

Von den Pausenhöfen sind sie verschwunden, das morgendliche Gekicher und Gebabbel auf den Schulwegen ist seit Wochen verstummt. Die Kinder sind daheim, in Sicherheit vor dem Virus. Doch für manche wird es jetzt genau dort gefährlich. Denn vom Radar der Jugendhilfe sind sie weitgehend verschwunden.

Isolierte Eltern, enge Wohnungen, Geldsorgen. Manchmal entlädt sich der steigende Druck gewaltsam an den Schwächsten. Nur, merkt das überhaupt jemand? Mit jeder Woche ohne Schule oder Kita steigt der Pegel in diesem Dampfkessel, sagen Experten.


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450 Familien haben große Probleme und werden in Nürnberg ambulant betreut, rund 250 haben einen amtlichen Erziehungsbeistand. Doch die vertraute – oder auch lästige - Sozialarbeiterin steht nicht mehr regelmäßig vor der Türe. In Corona-Zeiten telefoniert das Jugendamt mit den Eltern, Mails und SMS gehen hin und her, es wird geskypt. Den persönlichen Kontakt ersetzt das nicht. Und wer sich vom Amt nicht in die Karten schauen lassen will, dem kommt das gerade recht.

Telefonkontakt könne die Lage zumindest entschärfen, sagt Frank Schmidt vom Allgemeinen Sozialdienst (ASD) der Stadt. Noch seien die Zahlen unauffällig, kaum mehr Kinder als sonst hätten in die Obhut des Jugendamts genommen werden müssen. "Wir werden nicht überrollt, aber ich will das auch nicht bagatellisieren", sagt Schmidt. Denn wo niemand in die Kinderzimmer guckt, bleibt auch viel verborgen.

Schwierig Fälle zu erkennen

Die Lage kann schnell kippen, das spürt der ASD-Vertreter: "Ich mache mir natürlich Sorgen." Immerhin dürfen kleine Kinder aus besonders prekären Familien in die Notbetreuung der Kitas, die sonst nur dem Nachwuchs von Eltern mit systemrelevanten Berufen offensteht. Drei- bis Sechsjährigen entkommen so in Nürnberg aktuell dem gewaltigen Druck daheim. Wie es ihnen wirklich geht, ob sie blaue Flecken haben, schlecht ernährt oder verängstigt sind, bekommen so wenigstens die Erzieherinnen mit.

Häusliche Isolation sei für Heranwachsende, denen in der Familie Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch droht, eine Katastrophe, warnt ein jüngst veröffentlichter Appell von 100 Sozialwissenschaftlern aus ganz Deutschland. Vorher schon habe es zu wenig Personal in der Jugendhilfe gegeben, heißt es. Ein zentraler Krisenstab müsse her, Mitarbeiterinnen mit Infektionsschutz ausgestattet werden, um wieder in die Familien gehen zu können.


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Davon kann derzeit noch keine Rede sein. Martina Kranz besucht die Familien trotzdem. "Die vermissen uns sehr", sagt die erfahrene Sozialarbeiterin vom Trägerverein Schlupfwinkel. Ist es für die Kinder gefährlich? "Natürlich", sagt Kranz. Manchmal bleibt sie, damit eine Alleinerziehende einmal alleine einkaufen gehen kann. Oder sie geht mit einem Jugendlichen um den Block, wenn seine Mutter "Ich kann nicht mehr" signalisiert hat. "Die Menschen drücken geht leider nicht", sagt die 60-Jährige traurig.

Es werde lauter in den Familien, sagt Christine Goldberg vom Verein Schlupfwinkel. "Der Ton ist härter geworden. Diese Spirale müssen wir stoppen." Das wird auch andernorts versucht, hier via Telefon. "Wir rechnen mit einem Anstieg von Missbrauch und Gewalt." Klare Worte von Nina Pirk, die in Wuppertal für die bundesweite "Nummer gegen Kummer" arbeitet. 26 Prozent mehr Nachfrage als vor Corona haben die kostenlosen Chats für Kinder und Jugendliche. Das Elterntelefon nutzen 22 Prozent mehr Menschen. Auch ein Indiz dafür, dass sich die Unterstützung vor Ort gerade ziemlich rar macht.

Es ist schade, dass man nicht durch Mauern schauen kann. Doch manche Nachbarn bekommen trotzdem viel mehr mit als sonst. Sie sind plötzlich tagsüber zuhause und hören, was eine Etage höher los ist. Das Nürnberger Jugendamt jedenfalls registriert seit der Ausgangsbeschränkung mehr Hinweise aus der Nachbarschaft.

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