Soziologe erklärt: Das macht Corona mit unserer Gesellschaft

Alexander Jungkunz

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1.12.2020, 06:00 Uhr
Soziologe erklärt: Das macht Corona mit unserer Gesellschaft

© Jürgen Bauer

Herr Prof. Dr. Reckwitz, was macht Corona mit unserer Gesellschaft? Im Frühjahr zeigte sich sehr viel Zusammenhalt, nun sehen wir sehr viel Rücksichtslosigkeit bei den Corona-Protesten ohne Abstand und ohne Maske. Ist diese sehr egoistische Freiheit der Gipfel der marktliberalen Selbstverwirklichung?

Andreas Reckwitz: Das kann man so pauschal nicht sagen. Denn zumindest in Deutschland steht die große Mehrheit der Bevölkerung ja hinter der Corona-Politik. Andererseits gibt es eine Minderheit, die dies nicht tut und sich nun ziemlich deutlich zu Wort meldet. Ich würde dieses Phänomen aber eher unter dem Aspekt eines Gegensatzes zwischen "Systemvertrauen" bei den einen und "Systemmisstrauen" bei den anderen einordnen, der immer deutlicher wird. In allen westlichen Ländern – ob Deutschland, Frankreich oder die USA – stoßen wir auf ein Segment der Gesellschaft, das dieses Vertrauen verloren hat und "dem System" – der Wissenschaft, den Medien, der Politik - grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht. Das wird bei den Corona-Protesten deutlich.


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Wie geht man damit um? Wir spüren das auch: Einige Leser oder User beobachten das, was wir tun, mit abgrundtiefem Misstrauen...

Reckwitz: Es stellt sich die Frage, wie dieses Misstrauen entstanden ist. Wir müssen schauen, was sich in den Gesellschaften strukturell verändert hat in den letzten Jahrzehnten. Wir leben nicht mehr in der klassischen Industriegesellschaft der 1960er, 70er, 80er Jahren, sondern in einer spätmodernen, weitgehend postindustriellen Gesellschaft mit Gewinnern und Verlierern der Modernisierung. Auf der einen Seite ist eine Art neue, vor allem urbane Mittelklasse von Akademikern entstanden, aufgestiegen durch Bildung – die hat ein recht großes Systemvertrauen. Auf der anderen Seite gibt es Gruppen, die sich in der Defensive sehen oder drohen sozial abzusteigen. Das hat die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch "Fremd in ihrem Land" sehr treffend beschrieben. Sie wirft den Blick auf eine ländlich traditionelle Mittelklasse in den USA, die - materiell teils gut ausgestattet - das Grundgefühl hat, dass sie betrogen und übervorteilt wird, dass vom sozialen Aufstieg ‚die anderen‘ profitieren und man selbst auf der Stelle tritt. Das Phänomen sah man auch in Frankreich bei der Gelbwestenbewegung. In diesem misstrauischen Gefühl, übervorteilt zu werden, sucht man nach Schuldigen, nach Drahtziehern. Dann ist man rasch bei Verschwörungsgeschichten.

Sie sprechen von "gefühlter" Unterlegenheit... Geht es den Menschen gar nicht schlecht?

Reckwitz: Es gibt schon objektive Ursachen für diese Gefühle. Die alte, relativ homogene Mittelstandsgesellschaft existiert nicht mehr. Den Aufsteigern gegenüber stehen Verlierer, etwa in abgehängten Regionen im ländlichen Raum. Da ziehen die Jungen weg, da verschwindet die Infrastruktur. Teils überholen die gutqualifizierten Frauen die Männer. All das führt zu subtilen Entwertungserfahrungen, die sich teils zu einem Grundmisstrauen verdichten. Dafür muss man nicht in jedem Fall Verständnis haben, aber man muss verstehen, wie es entstanden ist. Das sind Entwertungserfahrungen, die von der Politik oft und lange gar nicht registriert wurden – auch was etwa die neuen Bundesländer angeht. Die Frage ist, wie sehr sich solche diffusen Gefühle in ein geschlossenes politisches Weltbild umsetzen oder schon radikalisieren.

Hinzu kommt die forcierte Polarisierung durch die sozialen Medien, wo jede(r) sich in seinem Weltbild bestätigt.

Reckwitz: Medien spielen immer eine Rolle beim sozialen und politischen Wandel. Das war beim Buchdruck so, beim Rundfunk und Fernsehen und ist jetzt mit den digitalen Medien nicht anders. Die bieten die Möglichkeit, dass sich abweichende Positionen überregional untereinander vernetzen und sich gegenseitig bestätigen können. Das war vor den Zeiten des Internets so nicht möglich. Da gelangten etwa Verschwörungsgeschichten häufig kaum über den lokalen Stammtisch hinaus. Im Netz findet man aber sehr schnell Gleichgesinnte, so dass sich die berühmten Echokammern ausbilden können.


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Kann das zu einer Polarisierung wie in den USA führen, mit zwei verfeindeten Lagern?


Reckwitz: Wir haben in allen westlichen Gesellschaften ähnliche Problemlagen, was den Strukturwandel angeht. In den USA hat die Polarisierung aber eine extreme Form angenommen: Es gibt auch sozialräumlich eine drastische Trennung zwischen den beiden Lagern und eine Polarisierung zwischen verschiedenen Medien, hinzu kommt eine drastische soziale Ungleichheit zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten. Was in Deutschland anders ist, ist aber wohl auch das nationale Gedächtnis: man weiß, wie der Nationalsozialismus entstanden ist und die radikale Polarisierung wie in der Weimarer Republik in den Abgrund führen kann.

Sie sprachen die NS-Zeit an. Wir erlebten nun "Jana aus Kassel", die sagte, sie fühle sich wie Sophie Scholl. Kann man mit ihr ins Gespräch kommen?

Reckwitz: Von Jürgen Habermas stammt die Diskurs-Ethik: der Glaube, dass es vernünftig und produktiv ist, Argumentation zu führen. Im Prinzip würde ich das teilen, aber man darf sich keine Illusionen machen: An ein komplett in sich abgeschlossenes Weltbild kommt man im Diskurs nicht heran. Wenn man überhaupt keine gemeinsamen Überzeugungen teilt, wird der Diskurs diese auch nicht aus dem Nichts entstehen lassen. Allerdings stellt sich die Frage, wie widerspruchsfrei und gefestigt solche Weltbilder tatsächlich sind und ob es nicht Brüche gibt, an denen man ansetzen kann. Wenn man nun mit "Jana aus Kassel" sprechen würde, könnte das vielleicht zu etwas Bewegung führen – am Ende sogar auf der eigenen Seite.

Wo können Menschen denn zusammenkommen, um so einen Diskurs zu führen?

Reckwitz: Ein Problem ist, dass in den letzten Jahrzehnten die Kommunikationsräume, in denen verschiedene Milieus aufeinandergetroffen sind, geschrumpft sind: die Volksparteien, die Kirchen, die gemischten Nachbarschaften.

Bräuchten wir mehr Gemeinsinn? Asiatische Gesellschaften bewiesen den offenbar mehr als wir im Westen, wenn man auf den Umgang mit der Pandemie blickt.

Reckwitz: Gemeinsinn fordern lässt sich sehr leicht. Aber die Coronakrise ist ja für alle Staaten ein praktisches Experiment in Sachen Gemeinsinn. Dass wir angehalten sind, unser Alltagsverhalten drastisch zu verändern, um nicht nur uns selbst, sondern vor allem andere, die wir gar nicht kennen, vor dem Virus zu schützen – das ist eine Grundargumentation, die auf Gemeinsinn setzt und doch im Großen und Ganzen offenbar überraschend gut funktioniert. Die meisten halten sich daran, die Rücksichtnahme auf die anderen leuchtet vielen ein. Wir lernen, für die gesamte Population zu denken – bisher lernten wir eher, dass jeder selbst für seine eigene Gesundheit besorgt sein muss. Zu Asien: Die europäischen Gesellschaften sind nicht so homogen wie Japan oder Südkorea. Und dort hat die Einübung von Praktiken des gemeinsamen Gesundheitsschutzes – Stichwort Masken – schon eine längere Tradition.

Wird Corona die Welt zu einer besseren machen? Das haben manche im Frühjahr hoffnungsvoll angemerkt. Inzwischen sieht es eher so aus, als wollten viele möglichst schnell wieder zurück zur alten Welt...

Reckwitz: Die Corona-Debatte, die wir seit März führen ist selbst ein interessantes Phänomen. Ich denke, dass Corona von Anfang an eine gewaltige Projektionsfläche war und ist – sowohl für Hoffnungen als auch Befürchtungen. Da gab es die Hoffnung auf Entschleunigung, mehr Nachhaltigkeit etc.. Und die Befürchtung, dass beim Thema Gleichberechtigung das Rad wieder zurückgedreht wird. Man kann aber aus soziologischer Sicht nicht davon ausgehen, dass diese eine Pandemie strukturell einen radikalen sozialen Wandel, einen großen Bruch bringt. Solche Prozesse laufen meist langsamer ab, über Jahrzehnte hinweg. So wird durch Corona eher intensiviert, was es vorher bereits gab– blicken Sie auf die Digitalisierung, die einen Riesen-Schub gemacht hat.

Was könnte sich ändern durch Corona?

Reckwitz: Wo ich am ehesten einen Ansatz für einen Strukturwandel sehe, das ist die Rolle des Staates. Auch das ist nicht völlig neu. Wir hatten von den 1980er Jahren bis zu den 2000er Jahren die Tendenz zu einer neoliberalen Staatlichkeit - einen Staat, der sich eher zurückzieht aus bestimmten Steuerungsfunktionen und auf Globalisierung und Wettbewerb setzt. Diese Form von Staatlichkeit ist seit 2010, vor allem der Finanzkrise, in die Kritik geraten. Mit Corona wird noch deutlicher: Eine aktivere Staatlichkeit ist möglich und auch nötig. Ein Land mit gutem Gesundheitssystem und Infrastruktur ist eher gewappnet, wenn eine Pandemie ausbricht. Es geht um eine Staatlichkeit, die öffentliche Infrastruktur sichert und um gesellschaftliche Resilienz bemüht ist. Das könnte für die nächsten Jahrzehnte wegweisend werden.

Könnte so ein Modell, so ein Staat auch seine bisherigen Kritiker zurückholen, die ihm derzeit so sehr misstrauen?

Reckwitz: Das ist ein interessanter Punkt. Von Seiten dieser Kritiker war ja oft die Rede vom Staatsversagen – die Staatlichkeit funktioniere gar nicht mehr. Wenn man nun sieht, dass der Staat bestimmte Probleme durchaus lösen kann oder sich künftig besser dafür wappnet, dann könnte sich bei denen, die schwanken zwischen Systemvertrauen und -misstrauen, wieder ein stärkeres Vertrauen ausbilden.

Wir erlebten nun wieder etliche Tage voller Krisengipfel in Berlin – die Runden zwischen Kanzleramt und den Ministerpräsidenten in den Ländern. Mit viel Kontroverse vorab und danach, mit dem Eindruck, da gehe es vielen auch ums eigene Profil und weniger um die Sache. Wie erleben Sie diese Art von Politik? Manche Bürger wenden sich ab von solchem Streit...

Reckwitz:Wer den Föderalismus kritisiert, der hat oft das Ideal einer möglichst zentralen Staatlichkeit: Es soll "durchregiert" werden. Gerade bei dieser aktiveren Rolle des Staates, die wir seit Frühjahr erleben, gibt es allerdings auch neue Risiken – wenn etwa Bürgerrechte beschnitten werden. Angesichts dieser Risiken scheint mir der Föderalismus jedoch eher günstig, weil er die Regierungen dazu zwingt, Debatten zu führen, statt auf ein zentrales Durchregieren setzen zu können. Der Streit gehört zur liberalen Demokratie dazu.

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