Der Wahnsinn hat Methode, auch an diesem Abend. Für die traditionelle Opening Night der Super-Bowl-Woche hatte die National Football League in Miami extra den Merlins Park der lokalen Profibaseball-Mannschaft angemietet. Dort trafen Trainer, Sportler und Journalisten nicht etwa in einem der klimatisierten, sehr großzügig geplanten Konferenzräume aufeinander, sondern unten, auf dem Feld. Gleich elf Podien hatten sie aufgebaut für die etwas gefragteren Interviewpartner, Mark Nzeocha musste wie die meisten anderen auf dem Boden bleiben, was ihm auch im richtigen Leben exzellent gelingt. Stattdessen machte er große Augen angesichts des medialen Durcheinanders im Merlins Park.
Super Bowl LIV: Das Wichtigste im Überblick
Das weiße Cap trug er verkehrt herum, als er seine Gefühle beschreiben sollte vor dem Finale am Sonntag um 18.30 Uhr Ortszeit (0.30 Uhr MEZ/live bei ProSieben und DAZN). Mark Nzeochas 49ers gegen die Kansas City Chiefs, knapp eine Milliarde Zuschauer weltweit und 65 000 im Hard Rock Stadium werden auch seine Kurzeinsätze genau verfolgen. Den ganzen Trubel rund um den Super Bowl kannte der Rothenburger bislang auch nur aus dem Fernsehen; Mark Nzeocha sieht und hört sich kurz um und kann es eigentlich nicht glauben, überhaupt dabei zu sein. "Was die hier aufziehen", sagt der 30-Jährige, "das ist fast schon Zirkus." Also Manege frei für die überwiegend schweren Jungs und ihre für Laien schwer verständlichen Aufgabengebiete.
109 Kilogramm geballte Muskelmasse
Mark Nzeocha und seine Kollegen aus den Special Teams sind beim Kick off, beim Kick-off-Return, beim Punt und beim Punt-Return gefordert. Dafür rennt und blockt und tacklet er bis zur totalen Erschöpfung. Und riskiert täglich Kopf und Kragen. Auf was er sich da eingelassen hat im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wusste Mark Nzeocha offenbar selbst im Sommer 2016 noch nicht so genau. Seinen bis dato letzten Besuch in der alten Heimat nutzte der Football-Profi aus Rothenburg ob der Tauber seinerzeit unter anderem, um spontan seine frühere Mannschaft gegen die Ravensburg Razorbacks zu coachen. Mit einigen hatte er noch selbst auf dem Platz gestanden. Vor seinem großen Abenteuer. Mit seinem mutigen Schritt von den Franken Knights zu den Wyoming Cowboys entschloss sich Mark Nzeocha, gleich mehrere Klassen zu überspringen. Von der Bezirks- in die Bundesliga, hätte es hierzulande im Fußball geheißen.
Die Herausforderung, es allen zu zeigen, stachelte seinen unbändigen Ehrgeiz erst richtig an. Auch das eine oder andere NFL-Franchise nahm nach und nach Kenntnis vom kräftigen Abwehrspezialisten aus Germany. Seit seinem Wechsel nach Übersee hat Mark Nzeocha ordentlich Muskelmasse zugelegt. Wie viel exakt, lässt sich schwer beziffern, da er schon als Jugendlicher das Krafttraining für sich entdeckt hatte. Nach Angaben der 49ers verteilen sich aktuell etwa 109 Kilogramm Gewicht auf einen Meter 90 Körperlänge. Damit zählt Mark Nzeocha zu den Top-Athleten seiner Sondereinheit; schon zu College-Zeiten schwärmten die zuständigen Experten von der Wucht und der Geschwindigkeit des jungen Deutschen, der es weit gebracht hat. Weiter, viel weiter als dereinst erträumt.
"Football spielen ist wie ein Autounfall"
"Am Anfang hab ich mir gedacht: Es ist egal, wo ich hinkomme, Hauptsache ein Team gibt mir die Chance", meinte Mark Nzeocha vor dreieinhalb Jahren im Städtischen Stadion von Rothenburg; los ging es in der NFL für ihn im Frühjahr 2015 gleich bei "America‘s Team", bei den Dallas Cowboys, zwei Jahre später wechselte Mark Nzeocha zu den San Francisco 49ers, davor der klassische Ausbildungsweg. Abitur an der Fachoberschule in Ansbach, anschließend College. Wo der gebürtige Aschaffenburger besonders taktisch praktisch bei Null anfangen musste. Auch am Montag in Miami interessierte sich der eine oder andere Berichterstatter für seine ganz persönliche Geschichte, Mark Nzeocha spricht im besten Denglisch von seinem "journey", ein "bisschen excited" ist er aber schon auch vor dem 54. Super Bowl.
Mit ihm in einer möglicherweise entscheidenden Nebenrolle, die selbst Jahre später noch ausgesprochen schmerzhaft sein kann. "Football spielen ist wie jede Woche ein Autounfall", so hat der ehemalige NFL-Profi Björn Werner mal seinen nicht ungefährlichen Beruf beschrieben; Gehirnerschütterungen sind Teil des Geschäfts und häufig folgenschwer, die Chronisch-traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, unter anderem ursächlich für Depressionen und Demenz, gehört seit vielen Jahren zur inoffiziellen Stellenbeschreibung. In Miami hängt der Football-Himmel dieser Tage trotzdem voller Geigen. Auch Mark Nzeocha wird nicht müde zu betonen, wie sehr ihn die ganze Veranstaltung da gerade fasziniert.
Einer von zwei Nicht-US-Amerikanern
Schon als Jugendlicher hatte er sich wie viele andere Flag-Footballer vorgestellt, wie es wohl sein würde, eines Tages mal selbst einlaufen zu dürfen beim legendären Super Bowl. Umschwärmt von der halben Welt. "Ein bisschen chillig" versucht er den Trubel zu nehmen, sagt er der Handvoll Journalisten, die etwas von ihm wissen möchten. Die Superstars der Branche verschwinden dagegen förmlich hinter einem Ring aus Leibern, Kameras und Selfiesticks. Wie Patrick Mahomes oder Jimmy Garoppolo beim gemeinsamen Auftritt am Montag im Merlins Park, die traditionell smarten Quarterbacks der beiden Finalisten. Nach der vor allem politisch gerne missbrauchten Ära der New England Patriots könnte es der Beginn einer neuen werden; beide Teams gelten als ausgesprochen talentiert und auch mittelfristig als Meisterschaftskandidaten.
Mittendrin Mark Nzeocha aus Rothenburg, neben dem Kanadier Laurent Duvernay-Tardif einer von zwei Nicht-US-Amerikanern beim Spektakel im Sunshine State. Zwei von 106. Via Instagram bedankte sich Mark Nzeocha bereits artig für "alle Nachrichten und Glückwünsche aus Deutschland", zudem könne er es "kaum erwarten, am Sonntag auf dem Feld zu stehen." Und natürlich zu gewinnen. Sollte sich San Francisco tatsächlich durchsetzen, wäre er der erst dritte Deutsche nach Markus Koch (1988, 1992) und Sebastian Vollmer (2015, 2017), der einen Super-Bowl-Ring mit nach Hause nehmen darf. Seinen Hauptwohnsitz hat Mark Nzeocha nach wie vor in Dallas, wo auch Ehefrau Taylor und der erst sieben Monate alte Sohn Cameron James leben.
Von Neusitz in die weite Welt
Auf seinen Enkel freut sich Marks Vater Chris, ein gebürtiger Nigerianer, ganz besonders; der Super Bowl wird auch eine Art Familienfeier, mehr als 13 Karten zum Stückpreis von 2900 US-Dollar waren für Sohn Mark und alle anderen Endspielteilnehmer aber nicht drin. Den Haufen Geld hat er gerne hingelegt, um möglichst viele Bezugspersonen teilhaben zu lassen an seinem Glück. Als er sich beim Media Day im Merlins Park so umschaut, fällt es ihm schwer, das alles in Worte zu fassen. Zurückdenken muss er an 2003 und seine Anfänge im Youth Team der Franken Knights und den "Acker", auf dem er sich in den Football verliebte. Knapp 17 Jahre später steht Mark Nzeocha im Super Bowl. Viel mehr ist in seiner Sportart nicht möglich, das weiß er auch. Und versucht deshalb, jede einzelne Minute zu genießen.
"Die Ernte des Strebers", so überschrieb die Süddeutsche Zeitung in ihrer Freitagsausgabe eine längere Geschichte über Mark Nzeocha, den selbst ein Kreuzbandriss vor fünf Jahren nicht umwerfen konnte. "Fünf Jahre Schweiß", so fasste das sein Vater Chris am vergangenen Samstag bei einer Pressekonferenz der Franken Knights zusammen, "Mark hätte das verdient, hoffentlich schaffen sie das." Nach einem kurzen Abstecher zum Basketball interessierte sich der zweitälteste der vier Nzeocha-Burschen früh für American Football; in einem Fitnessstudio in Neusitz bei Rothenburg sei 2003 der Kontakt zum lokalen Verein entstanden, erzählt Vater Chris, der Rest ist wohl ein modernes Sportmärchen. Dass Mark Nzeocha hierzulande trotzdem lange unter dem Radar flog, lässt sich mit seiner eher unspektakulären Position erklären. Zu Interviews werden hinterher andere gebeten, die Nummer 53 ist trotz eines mittlerweile millionenschweren Vertrages eher Malocher denn Künstler.
Geehrt wird er auf jeden Fall
Weil ein bisschen mehr Popularität nicht schaden kann, hat sich selbst Dirk Nowitzki schon seiner angenommen. Das Bild der beiden Franken nach einem karitativen Baseball-Turnier ging 2016 um die Welt. "Our favorite germans", twitterten die Dallas Mavericks. Auch der frühere Basketball-Star wird am Sonntag kräftig die Daumen drücken für die 49ers und seinen Kumpel Mark Nzeocha. Ende Februar, Anfang März, so ist aus dem Umfeld der Franken Knights zu vernehmen, möchte der Super-Bowl-Teilnehmer mal wieder für ein paar Tage nach Rothenburg kommen. Gestern teilte die Stadt mit, dass auch eine Ehrung geplant sei. Im Stadtrat sei "einmütig unserem Vorschlag zugestimmt worden, Herrn Nzeocha zu einem Empfang und zum Eintrag ins Goldene Buch der Stadt ins Rathaus einzuladen", teilte Bürgermeister Walter Hertl am Freitag auf Anfrage mit.
Egal, wie das Spiel in Miami am Sonntag ausgeht. "Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne die ganzen Leute, es ist einfach schön, mal wieder zuhause zu sein", das sagte Mark Nzeocha im Sommer 2016, als er sich noch schwertat damit, seinen Aufstieg richtig einzuordnen. Vor ein paar Jahren "habe ich noch hier gespielt, im Städtischen Stadion von Rothenburg", vor 300, manchmal auch 500 Zuschauern. Im Hard Rock Stadium werden es am Sonntag rund 65 000 sein und weltweit knapp eine Milliarde. Wenn der NFL-Zirkus zu seiner mitreißendsten Vorstellung des Spieljahres bittet.
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