Olympia-Traum geplatzt
Taekwondo: Ein Nürnberger kämpft gegen die Schmerzen
11.5.2021, 06:00 UhrAls Tahir Gülec die fünfte und dann auch gleich noch die sechste Spritze an diesem Tag verabreicht bekam, da fragte er sich wieder einmal: "Was mache ich da eigentlich? Für wen? Und wieso?" Gülec hat sich diese Fragen schon oft gestellt in den vergangenen Jahren. Aber er hat sie eben immer wieder gleich beantwortet: "Ich mache das, weil ich diesen Sport so liebe."
Deshalb also: eine Spritze in den schmerzenden linken Fuß, eine in den rechten, eine Verbeugung – und dann wieder ab ins Achteck.
Der Nürnberger Taekwondo-Kämpfer Tahir Gülec erzählt diese Geschichte keine 24 Stunden, nachdem er sein "großes Ziel" verpasst hat. Er betont das extra noch einmal: "Nicht Traum, sondern Ziel. Bei den Olympischen Spielen war ich ja schon."
2016 in Rio de Janeiro war das; ein unvergessliches Erlebnis, auch wenn er den Wettkampf selbst schnell verdrängt hat. Damals scheiterte er bereits im Viertelfinale, in Tokio wollte er nun unbedingt eine Medaille holen, das hätte seine Karriere gekrönt; es ist eine bemerkenswerte Karriere, Weltmeister und Europameister durfte er sich ja schon nennen.
Am vergangenen Freitag fand er sich in einer Umgebung wieder, die man ebenfalls bemerkenswert nennen durfte. In einer eher schlecht ausgeleuchteten Halle mit niedrigen Decken bot sich Gülec in der bulgarischen Hauptstadt Sofia die letzte Chance, sich einen Platz im Teilnehmerfeld von Tokio zu erstreiten.
Der Sport, der in weiten Teilen der Welt in der Nische ausgeübt wird, trifft nicht immer auf glamouröse Rahmenbedingungen, in Zeiten einer Pandemie hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil. Außer den Kampfrichtern und einem Helfer, der hinter der Bande die Füße hochlegte und konsequent auf sein Smartphone starrte, gab es vor Ort keine Zuschauer. Der Familie, den Freunden und den Fans blieb nur ein Livestream ohne Kommentar.
Bundesstützpunkt in Nürnberg
In der Taekwondo-Hochburg Nürnberg dürfte die Einschaltquote besonders hoch gewesen sein. Die Mitglieder der Familie Gülec haben ja zunächst selbst dafür gesorgt, dass immer wieder Kämpferinnen und Kämpfer aus der Stadt zu den Olympischen Spielen gereist sind. Seit 2019 gibt es hier einen Bundesstützpunkt, die Talente stammen jetzt nicht mehr nur aus dem Familienkreis.
Am Freitag sahen sie alle auf dem Bildschirm einen Tahir Gülec, der in seiner Gewichtsklasse bis 80 Kilogramm zunächst einmal wie so oft in den letzten Jahren die Schmerzen sehr gut ignorieren konnte.
Seit geraumer Zeit hat er kleine Entzündungen in beiden Füßen. Beim koreanischen Kampfsport sind sie sein wichtigstes Arbeitsgerät. Eine Pause wollte er sich bislang aber nicht gönnen, es hätte zu viele Turnierteilnahmen und Weltranglistenpunkte gekostet. Das große Ziel wäre in weite Ferne gerückt.
Der kleine Piks ist deshalb inzwischen zur Routine geworden. "Die meisten Leute wissen gar nicht, was ich für meinen Sport in Kauf nehme", sagt Gülec. Und: "Ohne die Spritzen könnte ich nicht kämpfen. Die Schmerzen wären unerträglich."
Eine links, eine rechts. Dann tänzelte Gülec in Sofia auf die Matte und besiegte Kasra Mehdipournejad, der in Berlin lebt und für das olympische Team der Geflüchteten angetreten war, knapp mit 10:8.
Eine links, eine rechts. Auch gegen den Tschechen David Simek setzte sich der 28-Jährige durch, wobei es diesmal nicht seine Füße waren, von denen aus die heftigsten Signale ins Schmerzzentrum in seinem Kopf gesendet wurden. Nach einem fiesen Tritt zwischen die Beine krümmte sich Gülec einige Sekunden lang und war dann sehr erstaunt, dass sein Gegenüber keinen Punkt abgezogen, sondern sogar gutgeschrieben bekam. 4:4 stand es, Tokio schien plötzlich weiter als 9000 Kilometer Luftlinie entfernt zu sein, aber offenbar weckte das erst das Kämpferherz des Jungen aus der Nürnberger Südstadt. Wenige Minuten später hatte er 11:4 gewonnen.
Eine Spritze links, eine rechts
Eine links, eine rechts. "Noch einmal sechs Minuten Vollgas geben", sprach sich Gülec vor dem Halbfinale Mut zu. Der Einzug ins Finale wäre gleichbedeutend mit der Qualifikation für Tokio gewesen, und dass er in diesem Moment die letzte Nürnberger Olympia-Hoffnung darstellte, war ihm sehr bewusst. "Ich wusste, es liegt alles in meiner Hand. Ich wollte Nürnberg stolz machen und die Ehre retten", sagt er am Tag danach ohne jedes Pathos in der Stimme.
Warum es nicht geklappt hat? Warum er gegen den Italiener Simone Alessio, den Weltmeister von 2019, chancenlos war? Warum er schon nach wenigen Sekunden 0:6 zurücklag und nie richtig hinein fand in den Kampf, der am Ende mit 2:18 deutlich verloren ging? Tahir Gülec weiß es nicht, noch nicht. Er braucht erst etwas Abstand. "Ich habe mein Bestes gegeben", sagt er. Immerhin das weiß er.
Nächstes Ziel: Weltmeisterschaft
Bis zu den Spielen in Tokio unterstützt er nun seinen Schwager Alexander Bachmann, der sich als einziger deutscher Taekwondo-Kämpfer qualifiziert hat. Gülec’ nächstes Ziel ist die WM im Oktober. Ob er 2024 um eine olympische Medaille kämpfen darf, hängt davon ab, ob ihm der Verband weiter entsprechende Leistungen zutraut. Und davon, wie weit ihn seine Füße tragen.
Auf den Kampf um Platz drei verzichtete er in Sofia. Punkte hätte das ohnehin nicht mehr gebracht. Tahir Gülec war ausgepumpt. Und er hatte keine Lust auf eine siebte und achte Spritze.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen