Wunderbare WM: 1990 - ein Triumph und seine Geschichte

8.7.2020, 14:12 Uhr
Mit 1:0 bezwang die deutsche Nationalmannschaft um Torschützen Andreas Brehme bei der WM 1990 Argentinien.

© Frank Kleefeldt Mit 1:0 bezwang die deutsche Nationalmannschaft um Torschützen Andreas Brehme bei der WM 1990 Argentinien.

 Viele Experten sind der Ansicht, dass der Grundstein für den Titelgewinn bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Italien mit dem 1:0-Finalsieg gegen Argentinien am 8. Juli vor 30 Jahren durch eine tolle Leistung beim 4:1-Triumph im Auftaktspiel gegen Jugoslawien gelegt worden sei. Daran ist nicht zu rütteln. Bei einer gründlichen Ursachenforschung für die Leistungsexplosion muss man aber in der Geschichte zurückblättern.

Lange Leine statt straffe Zügel

Wunderbare WM: 1990 - ein Triumph und seine Geschichte

© Foto: Eduard Weigert

Vier Jahre zuvor, bei der WM in Mexiko herrschte trotz des zweiten Platzes alles andere als eitel Wonne. Ärger und Verdruss vor allem bei Teamchef Franz Beckenbauer, der die Zügel straff in der Hand hielt und dies dadurch dokumentierte, dass er Torhüter Uli Stein vorzeitig nach Hause schickte, weil ihn dieser mit der Bezeichnung "Suppenkasper" beleidigt hatte. In Italien 1990 war alles anders. Ganz anders. "Ich habe meine Lektion gelernt", bekannte der "Kaiser". Er präsentierte sich locker wie nie zuvor und gestattete seinen Schützlingen nicht für möglich gehaltene Freiheiten. Der eindeutige Beweis: Die damals bei Inter Mailand unter Vertrag stehenden Spieler Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann und Andreas Brehme hielten sich mehr in ihren Wohnungen am Comer See als im Mannschaftsquartier in Erba auf. 

"Wir haben davon profitiert", behauptete der aus Herzogenaurach stammende Lothar Matthäus, der seine tolle WM – er wurde später sogar als Weltsportler des Jahres ausgezeichnet – mit einem unglaublich starken Auftritt beim Auftakt gegen Jugoslawien (4:1) einleitete. "Es war, wenn ich nachdenke, das beste Spiel in meiner Laufbahn", legte sich der deutsche Rekordnationalspieler fest.

An diesem Jubeltag im gewohnten Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion war er mit zwei Toren – eine für den Mittelfeld-Motor seltene Bilanz – der Vater des Erfolges, zu dem die beiden Stürmer Jürgen Klinsmann und Rudi Völler je einen Treffer beisteuerten. Dass es nach diesem Triumph im Camp feuchtfröhlich zuging und auch keine Sperrstunde herrschte, versteht sich von selbst.

Die Lehren aus Mexiko trugen also ihre Früchte. Prompt konnten sich Spaßvögel wie Pierre Littbarski voll entfalten. Der Flügelflitzer aus Köln organisierte gemeinsam mit Torhüter Bodo Illgner das Deutsche Nationalmannschafts-Fernsehen, das den Spieß umdrehte und sich die Medienvertreter zu Opfern auserkor.

Wunderbare WM: 1990 - ein Triumph und seine Geschichte

© Foto: Frank Kleefeldt, dpa

Gute Laune in der Truppe, die sich auch auf dem Rasen auszeichnete. Für Brisanz und leider auch einen unerfreulichen Aspekt sorgte das Achtelfinale mit dem Erzrivalen Niederlande als Gegner. Frank Rijkaard spuckte seinen Gegenspieler Rudi Völler zweimal ins Gesicht. Doch am Ende zählte nur der verdiente 2:1-Sieg. Franz Beckenbauer, der in Italien hohe Maßstäbe angesetzt hatte, war danach mit dem 1:0-Sieg über die Tschechoslowakei – Matthäus verwandelte einen Elfmeter – gar nicht zufrieden und hatte prompt in der Kabine einen seiner gefürchteten Wutausbrüche.

Illgner pariert glänzend - Buchwald wird zum Maradona-Schreck

Zwar war das Endspiel gegen Titelverteidiger Argentinien ein Langweiler, doch dafür zuvor das Halbfinale gegen England ein Krimi mit Spannung und Dramatik pur. Und auch mit einem Helden auf deutscher Seite: Torhüter Bodo Illgner, alles andere als ein Spezialist beim Elfmeterschießen, wehrte mit einer Glanzparade einen Schuss von Stuart Pearce ab und machte die Revanche mit Argentinien für die Niederlage vier Jahre zuvor in Mexiko möglich.

Wunderbare WM: 1990 - ein Triumph und seine Geschichte

© Foto: Eduard Weigert

Auch wenn der Erfolg mit 1:0 durch einen Elfmeter nur knapp ausfiel, ist nicht der geringste Zweifel an seiner Berechtigung angebracht. Die Deutschen beherrschten eindeutig das Geschehen gegen einen Kontrahenten, der seine Glanzzeiten längst hinter sich hatte. Vor allem auch sein Superstar Diego Maradona, der sich gegen seinen "Schatten" Guido Buchwald überhaupt nicht in Szene setzen konnte. Die Würdigung nach seinem tollen Auftritt für den Stuttgarter: Fortan nannten sie ihn nur Diego.


Vom Wunder der »Hand Gottes«


Rätsel gab die entscheidende Szene der Partie auf. Zum Elfmeter für die DFB-Elf trat nicht der Spezialist Lothar Matthäus, sondern Andreas Brehme an. Hatte der Franke urplötzlich seine Selbstsicherheit verloren? Was war der Grund für sein Fernbleiben am ominösen Punkt? Die Aufklärung erfolgte erst lange Zeit später: Er hatte seinen rechten Schuh wechseln müssen und war sich deshalb seiner Sache nicht sicher. Aber Brehme erwies sich als absolut souveräner Schütze. Die Jubelorgie nach dem Abpfiff konnte gestartet werden.


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Einer aber fehlte. Der Vater des Erfolges: Franz Beckenbauer. Er wanderte mutterseelenallein auf dem Rasen umher, wollte so den Triumph genießen. Doch diese Szene, die immer wieder vom Fernsehen ausgestrahlt wird, dauerte natürlich nicht ewig.

An seinem letzten Arbeitstag hängte er seinem Assistenten und Nachfolger Berti Vogts noch ein schweres Gewicht um den Hals. Mit der Aussage in der Pressekonferenz, dass der deutsche Fußball durch die hinzukommenden stärksten Spieler aus der DDR noch besser und auf Jahre nicht zu schlagen sein werde. Der Kommentar von Vogts: "So ist halt der Franz." Ein Mann, der sein Herz auf der Zunge trägt!

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