24. August 1969: In einer Nacht wie jeder anderen

NN

24.8.2019, 07:00 Uhr
24. August 1969: In einer Nacht wie jeder anderen

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Was passiert so alles im Städtischen Krankenhaus während der Nachtschicht in der Zeit von 20 Uhr bis 8 Uhr früh? Dieser Frage ging unser Redakteur Christian K. Polit nach. Als er gestern früh das Krankenhaus verließ, war er beeindruckt von der Perfektion, mit der der Betrieb auch nachts läuft. Für die Ärzte und das Pflegepersonal war es nur eine Nacht wie jede andere – „keine Vorkommnisse“.

Die Städtischen Krankenanstalten verfügen über 2 700 reguläre Betten. Und mindestens ebensoviele Patienten sind zu betreuen. Meistens reichen diese Plätze gar nicht einmal aus. Notbetten müssen aufgeschlagen werden, die dann aus Platzmangel häufig in die Korridore, Badezimmer oder manchmal sogar in ausgesprochene Abstellräume geschoben werden.

Aber das ist gar nicht das Hauptproblem, so erfuhren wir in einem Gespräch mit dem ärztlichen Direktor Prof. Dr. Walter Schäfer, gleichzeitig Vorstand des Hygienischen Instituts und des Blutspendedienstes, Raummangel kann man durch Neubauten beheben.

Wesentlich schwieriger ist es, genügend Pflegepersonal zu bekommen. Erst kürzlich mußten in der Universitätsklinik Göttingen zwei Stationen geschlossen werden, weil es an ausgebildeten Krankenschwestern fehlte. Auch beim Städtischen Krankenhaus Nürnberg mußten trotz steigender Nachfrage nach Betten manche Stationen aus eben diesem Grund verkleinert werden.

Prof. Schäfer: „Die Bevölkerung erwartet im Krankenhaus eine 110prozentige Hilfeleistung, ist aber andererseits nicht unbedingt bereit, aktiv zu diesem Service etwas beizusteuern, indem sie aus ihren Reihen ausreichend für eine Verbesserung im Bestand des Pflegepersonals Sorge trägt.“

Tatsache ist, daß vor allem Nacht- und Wochenend-Dienste viele junge Mädchen davon abhalten, Krankenschwester zu werden. Denn die Bezahlung im Krankenhaus steht heute kaum mehr hinter der in der Industrie zurück. Fragt man jedoch vor allem jüngere Krankenschwestern, ob sie vielleicht lieber einen anderen Beruf gewählt hätten, nachdem sie inzwischen die vielen Opfer, die dieser Beruf abverlangt, kennengelernt haben, dann hört man in den meisten Fällen ein uneingeschränktes Nein.

Und schon sind wir bei einem anderen Mißstand: Viele praktische Ärzte – so wurde auch von diensthabenden Ärzten anderer Kliniken bestätigt – sind während der Nacht von ihren Patienten nicht zu erreichen, die sich in ihrer Verzweiflung an das Krankenhaus wenden. Besonders schwerwiegend sei dies an Wochenenden, wenn manche Ärzte schon freitags in ihren – übrigens wohlverdienten – Wochenend-Urlaub fahren. Der Bereitschaftsdienst aber beginnt erst am Samstag früh.

Und das ereignete sich in zwölf Stunden in der Nacht zum gestrigen Freitag:

20.10 Uhr: Eltern bringen ihren 1 ½jährigen Sohn. Er war gestürzt und hatte sich einen Zahn in den Oberkiefer gerammt. Dr. Engelhardt mußte die Eltern mit dem weinenden Kind an die Erlanger Zahnklinik verweisen, weil die Nürnberger nachts nicht besetzt ist.

20.15 Uhr: ein zweijähriges Kind wird von einem Sanka mit Blaulicht gebracht. Das Mädchen litt an Erstickungsanfällen.

20.25 Uhr: ein 17jähriges Mädchen, nur mit Schlafanzug und Morgenrock bekleidet, fährt im Krankenwagen vor. Nach kurzer Diagnose schickt Dr. Engelhardt es nach Hause. Die Patientin litt an einer Nervenentzündung zwischen den Rippen. Kein akuter Fall für das Krankenhaus.

20.35 Uhr: eine 65jährige Frau mit 40 Grad Fieber und „entgleistem Diabetes“ sowie einer Lungenentzündung wird eingeliefert. Sie mußte sofort behandelt werden und kam in eines der zwei noch freien Betten.

21 Uhr: ein 64jähriger Asthmatiker mit Erstickungsanfällen muß sofort behandelt werden. Dr. Engelhardt gelingt es nach einigen Telefonaten, ein weiteres freies Bett für diesen akuten Fall zu organisieren.

21.10 Uhr: ein Säugling wird mit einem Leistenbruch zur Kinderklinik gebracht.

21.15 Uhr: eine 23jährige verheiratete Frau und Mutter von zwei Kindern wird mit einer Vergiftung eingeliefert. Nach einem Ehekrach hatte sie über 40 Schlaftabletten geschluckt. Die Frau wurde gerettet.

21.45 Uhr: der diensttuende Arzt auf der Entbindungsstation meldet die erste Geburt dieser Nacht. Die 22jährige Mutter wurde von ihrem ersten Kind, einem kräftigen Jungen, entbunden. Keine Komplikationen.

22.10 Uhr: ein 48jähriger Autofahrer wird von einer Polizeistreife zur Blutprobe gebracht. Dr. Engelhardt erledigt das.

22.15 Uhr: ein 19jähriger Nürnberger wird mit einer postoperativen Blutung eingeliefert. Für ihn wird in einem Behandlungszimmer ein Notbett aufgeschlagen.

22.55 Uhr: ein 44jähriger Mann aus Allersberg wird mit schweren Koliken von einem Sanka gebracht. Kein Bett frei! Der Aufnahme-Arzt ruft bei benachbarten Krankenhäusern an. Endlich: In Roth erklärt man sich bereit, ein Notbett in einem Badezimmer für den 44jährigen aufzustellen. Dr. Engelhardt atmet auf.

23.10 Uhr: eine 54jährige Frau aus dem Kreis Forchheim mit schweren Koliken, Brechreiz und rasenden Kopfschmerzen wird von ihrem Sohn mit einem Privatwagen gebracht. Bei der ersten Untersuchung stellt sich heraus: ein wirklicher Notfall. Dr. Günter Haferkamp, „Diensttuender“ auf der Neurologischen Abteilung, nimmt die Frau auf, muß sie aber in die psychiatrische Abteilung legen, weil er sonst kein Bett mehr frei hat. Die Frau litt unter einer Gehirnblutung.

23.20 Uhr: eine 74jährige Rentnerin wurde mit einem Schenkelbruch eingeliefert. Sie war eine Treppe hinuntergestürzt. Die chirurgische Ambulanz nimmt sich ihrer an, bevor sie auf die zuständige Station verlegt wird.

23.35 Uhr: eine 23jährige Frau wird mit Verdacht auf akute Blinddarmentzündung eingeliefert Diese Diagnose wird vom diensthabenden Chirurgen nicht bestätigt. Die Frau kann wieder nach Hause geschickt werden. Sie litt unter einer Magen- und Darmverstimmung.

23.40 Uhr: ein 41jähriger Nürnberger wird mit einem Herzinfarkt eingeliefert. Er bekommt das letzte noch freie Bett auf der Inneren Station. Langsam wird es bei der Aufnahme ruhiger. Es kommen die nächste Zeit nur kleinere Fälle, die nach ambulanter Behandlung wieder entlassen werden können. („So ruhig wie heute Nacht war es schon lange nicht!“, meinte der Aufnahmearzt. Mir allerdings reichte es.)

1.05 Uhr: das zweite Baby dieser Nacht, ein 3470 Gramm schwerer Junge, erblickt das Licht des Kreißsaals. Ein 19jähriges Mädchen war am Vorabend von seinem Hausarzt mit der Diagnose „große Eierstock-Zyste“ in die Frauenklinik eingewiesen worden. Von Schwangerschaft war keine Rede. Auch das Mädchen ahnte nichts. Um 1.30 Uhr wurde die 19jährige gestern früh von einem strammen Jungen entbunden.

1.45 Uhr: auf der Entbindungsstation geht es langsam rund. Immerhin hat die Frauenklinik – mit jährlich rund 4500 Geburten einer der größten im Bundesgebiet – schließlich einen Ruf zu verteidigen. Jetzt schenkt eine 23jährige Mutter einem acht Pfund schweren Jungen das Leben.

2.25 Uhr: eine 25jährige Frau wird von einem neuneinhalb Pfund schweren Mädchen entbunden.

2.28 Uhr: die vier Bereitschaftshebammen haben im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun. Schon wieder ein Mädchen, etwas über sieben Pfund schwer. Die 36jährige Mutter hatte eine leichte Geburt.

3 Uhr: die Nachtschwestern beginnen mit dem Wecken der Patienten – Fiebermessen, Waschen, Betten bauen.

3.30 Uhr: die zweite und letzte Blutprobe dieser Nacht. Ein 21jähriger Bundeswehrsoldat war ohne Führerschein, dafür unter Alkohol durch die Innenstadt gerauscht. Eine Funkstreife faßte ihn.

4 Uhr: 72 Babies auf der Entbindungsstation werden trockengelegt und anschließend gefüttert oder ihren Müttern zum Stillen gebracht.

Danach herrscht im Krankenhaus, mit Ausnahme der Routinearbeiten, Ruhe. Die Nachtdienstärzte haben noch einige Stunden Zeit, sich bis zum Schichtwechsel aufs Ohr zu legen. Oftmals aber endet eine arbeitsreiche Nacht erst mit der Stunde der Wachablösung um 8 Uhr.

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