Wusste der Verfassungsschutz über den NSU Bescheid?
20.4.2018, 06:00 UhrDer Vorgang war bemerkenswert und von großer Tragweite. Ein einziger Satz, den der Münchner Polizeibeamte Konrad Pitz vor Abgeordneten des bayerischen Landtags äußerte, brachte ihm prompt eine Anklage der Staatsanwaltschaft München I wegen uneidlicher Falschaussage ein. Denn was Pitz behauptet hatte, konnte kaum stimmen. Oder doch?
Der Kriminalhauptkommissar war ein versierter Spuren-Analyst und DNA-Experte, der die Prüfung zum "Sachverständigen für Daktyloskopie" (Fingerspuren) abgelegt hatte. Am 18. Juni 2013 sagte er in dieser Anhörung im NSU-Untersuchungsausschuss, dass bereits zum Jahreswechsel 2007/2008 in einer Dienstbesprechung in Nürnberg von einer "kriminellen oder terroristischen Vereinigung, auf jeden Fall rechtsradikal," mit dem Namen NSU die Rede gewesen sei. "Da bin ich mir ganz sicher."
Besprechung im Präsidium
Dieser Satz war Sprengsatz. Denn stets hatten die Ermittler beteuert, nichts von einem NSU gewusst zu haben, bis Beate Zschäpe im November 2011 ein Bekenner-Video des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds NSU an Medienhäuser versandte. Ein Exemplar wurde bei den Nürnberger Nachrichten abgegeben.
Die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss waren elektrisiert und fragten nach. Doch der Polizist konnte sich nicht erinnern, wer diese brisante Aussage getroffen hatte. Nur so viel: "Auf jeden Fall ist es nicht von den Spurensachbearbeitern gekommen, sondern das wurde von oben mitgeteilt". Von der Leitung der Ermittlungsgruppe, intern: BAO-Leitung. Auch heute, fast fünf Jahre später, bleibt Pitz bei seiner Darstellung.
Im Gespräch mit dem NN-BR-Rechercheteam versichert der inzwischen 61-Jährige, dass die BAO-Leitung entweder durch einen Hinweis des Landesamtes für Verfassungsschutz aus Thüringen oder aus Sachsen von der neuen gefährlichen Gruppierung NSU in Kenntnis gesetzt worden sei. So viel sei klar gewesen.
Kein Blick nach Rechts
In dieser Besprechung im Polizeipräsidium Mittelfranken in Nürnberg wurde der bisherige BAO-Leiter Wolfgang Geier verabschiedet, der eine andere Aufgabe übernahm, erinnert sich Pitz. Ob Geier selbst diese Aussage gemacht hatte, kann er nicht sagen.
Jedenfalls rief der Spurenanalyst kurz darauf beim Polizeipräsidium in Nürnberg an und fragte nach, ob nun "die rechte Schiene wieder aufgemacht wird" und er auch die DNA-Proben der drei Nürnberger Mordopfer Enver Þimþek, Abdurrahim Özüdoðru und Ismail Yaþar nach Hinweisen auf Täter aus der rechten Szene untersuchen solle.
Tage später erhielt Pitz die Antwort: "Nein, das ist gestorben, die Spur ist gestorben!" Als Begründung sei ihm genannt worden, Rechte könnten nicht die Täter gewesen sein, denn die Szene habe man "unter Kontrolle", schließlich seien genügend V-Leute im Einsatz - der Verfassungsschutz habe die Neonazis im Griff.
Im Herbst 2014 dann die Wende: Das Bundesamt für Verfassungsschutz musste zugeben, dass es bereits im Jahr 2005 von einem V-Mann eine DVD mit der Aufschrift "NSU/NSDAP" bekommen hatte. Die Anklage der Münchner Staatsanwaltschaft gegen Konrad Pitz wegen angeblicher Falschaussage war damit nicht mehr haltbar und wurde im Sommer 2015 still und leise zurückgezogen.
Doch die Frage bleibt bis heute offen: Ab wann wussten die Behörden wirklich von einer Terror-Organisation namens NSU? Der Fürther Neonazi und Volksverhetzer Matthias Fischer hatte in einem rechten Propaganda-Magazin bereits im Jahr 2001 "Grüße an die Untergrundkämpfer" geschickt. Und schon 1999 war in der Kneipe "Sunshine" in der Scheurlstraße in Nürnberg eine Taschenlampe explodiert, die, wie heute bekannt ist, der NSU oder seine Helfer dort platziert haben.
Ab wann wusste der Geheimdienst also über den NSU Bescheid? Sebastian Scharmer, Nebenklage-Anwalt im Münchner NSU-Prozess, der die Familie des Dortmunder Terror-Opfers Mehmet Kubaþik vertritt, spricht von insgesamt 30 V-Leuten im direkten Umfeld des Trios. Es seien "zu jeder Zeit an jedem Ort immer relativ nah am Kerntrio V-Personen unterwegs gewesen", sagt Scharmer dem Rechercheteam. Deshalb sei es "nicht vorstellbar", dass die Verfassungsschutz-Ämter aus diesen "Topquellen" keine Informationen bekommen hätten.
Schließlich galten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt als hochgefährlich, hatte man doch den Sprengstoff TNT in ihrer Garage gefunden. Warum aus den Infos, "die geflossen sind, nichts geworden ist, das ist die große Frage", konstatiert der Anwalt.
Die SPD-Landtagsabgeordnete Helga Schmitt-Bussinger (Schwabach/Nürnberg-Süd), die als Innenexpertin 2013 im NSU-Untersuchungsausschuss saß und auch Konrad Pitz befragte, hält seine Aussagen für glaubhaft. Dass man bereits 2007/ 2008 Kenntnis vom NSU hatte, sei durchaus möglich. Doch es habe sich nicht beweisen lassen.
Pitz selbst hatte sich an die bayerische Grünen-Politikerin Susanna Tausendfreund gewandt, damals ebenfalls Mitglied im U-Ausschuss. Auch sie beschreibt den Ermittler heute wie damals als "sehr glaubwürdig". Er habe sehr nachvollziehbar berichtet, dass die Abkürzung NSU zu einem sehr frühen Zeitpunkt bekannt gewesen und der Name in einer Besprechung in Nürnberg gefallen sei. Pitz habe leider keine Belege vorweisen können, außer seiner Erinnerung.
Auch auf mehrfache Nachfrage wollte sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nicht zu den Vorgängen äußern. Er lehnte wie die Bundesanwaltschaft jede Stellungnahme ab.
Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly kritisiert, dass die Rolle des Verfassungsschutzes bislang nicht aufgeklärt ist. Der Zschäpe-Prozess werde keinen Rechtsfrieden herstellen: "Zwei Fragen sind offen: Welche Rolle spielte der Staat, und ist die Kleingruppen-These nicht doch falsch?"
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