Hand aufs Herz: Wann ist es Trend geworden, niemandem etwas zu gönnen?

Cagri Kayis

14.4.2022, 12:22 Uhr
Hand aufs Herz: Wann ist es Trend geworden, niemandem etwas zu gönnen?

© Kayis

Verbreitete Neidkultur

Die Neidkultur in Deutschland ist riesig. Ich glaube, dass Deutschland die Nummer 1 ist, wenn es darum geht, neidisch auf andere zu sein. Und warum ist es Trend geworden, sich nicht mehr mit Freund:innen zu freuen, wenn sie ein Meilenstein in ihrem Leben erreicht haben? Ich begreife es bis heute nicht. Entweder nehmen Menschen es für selbstverständlich an, dass man etwas erreicht hat, oder aber sie gönnen es einem am Ende doch nicht und machen Auge. Für jede:n, der nicht weiß was "Auge machen" bedeutet: Es ist eine Form von Neid oder Eifersucht. Diese inzwischen etablierte Jugendwort lehnt sich an den in arabischen Kulturen gängigen Begriff des "Bösen Blicks" an.

Das Studium zu bestehen ist keine Selbstverständlichkeit

Vergangenen Monat habe ich mein Studium erfolgreich beendet, wofür ich zum Teil sehr gekämpft habe. Anscheinend sah das für die meisten aber so aus, als würde ich alles souverän und problemlos bestehen - was auch der Fall war - jedoch war das wirklich viel Arbeit. Diese Arbeit sehen die meisten einfach auch nicht und denken sich: "Ach, der kriegt das schon irgendwie hin." Warum kann man sich einfach nicht mit den Menschen freuen, die ein Achievement erreicht haben?

Tabu-Thema Geld

Ein anderes Beispiel, das mir einfällt, ist, dass wir nie über Geld reden. Wenn wir über Geld reden, geht es meistens um das Geld eines Anderen. Warum? Hat man Angst, dass einem das Geld vom Konto geklaut wird, wenn man darüber spricht? "Bruder, über Geld spricht man nicht, Du weißt doch." Denkst Du, ich klaue Dir Dein Geld oder distanziere mich von Dir, wenn ich gesehen habe, wie viel Du verdienst? Ich verstehe bis heute nicht, warum daraus so ein großes Ding gemacht wird, wenn es um das eigene Geld geht. Und warum andere mir ein finanzielles Polster neiden.

"Ich gönne Dir das so sehr!"

In Deutschland sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir Menschen explizit sagen müssen: "Ich gönne Dir das so sehr". Weil wir uns selbst schon so indoktriniert haben, dass uns niemand etwas gönnt. Und auch wenn es gesagt wird, steht man den Worten immer noch misstrauisch gegenüber. Es ist fast schon ein Teufelskreis, aus dem man nicht raus kann.

Ich wünsche mir ehrlich gesagt nichts mehr, als eine Gesellschaft, die sich genuinely freut, über die Achievements, die man erreicht hat. Sei es Studium, Geld oder aber irgendetwas Banales, wie: Ich habe einen Teddybär gestrickt. Es gibt bestimmt Menschen, die sich auch wirklich freuen, aber leider sind sie in der Minderheit. Mein Wunsch ist es, in einer Welt zu leben, in der es die Norm ist, sich für andere zu freuen.

Gary Vee als Hoffnungsträger

Die Person, die mir Hoffnung gibt, dass wir vielleicht mal so eine Gesellschaft der Appreciation erreichen können, ist Gary Vaynerchuk. Auch bekannt als Gary Vee. Er ist ein Multi-Unternehmer, hat im Leben fast alles erreicht und könnte sich mit 46 Jahren schon zur Ruhe setzen. Er ist ein berühmter Keynote Speaker und hilft den Menschen durch Vorträge, Videos und Tiktoks. Gary hört sich auf dem ersten Blick an, wie ein generic Motivationscoch á la Bodo Schäfer. Jedoch ist die Besonderheit bei ihm, dass er sich tatsächlich darüber freut, dass Menschen Inspiration aus seinem Tun schöpfen und dadurch das erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Allein, dass er sich darüber freut, obwohl er eigentlich seine Arbeit schon getan hat und mit den Menschen nichts zu tun hat, gibt mir noch Hoffnung, dass wir vielleicht so eine Gesellschaft erreichen können. Eine Gesellschaft, in der niemand sagen muss: "Vallah, ich gönn Dir", weil wir das von vornherein schon tun, ohne es explizit sagen zu müssen.


Noch mehr Hand aufs Herz

Und: Muss das sein? Maulsperre durch Burger

Keine Kommentare