Pille gegen Frust?
Benzos und Opioide: Diese Arzneimittel sind die neuen Trend-Drogen
3.11.2022, 16:45 UhrDas Bundesgesundheitsministerium geht aufgrund von Schätzungen davon aus, dass in Deutschland zwischen 1,4 und 1,5 Million Menschen an einer Medikamentenabhängigkeit leiden. Noch schockierender: Eine Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen des Münchener Instituts für Therapieforschung aus dem Jahr 2019 ergab, dass unter den befragten Neunt- und Zehntklässlern an bayerischen Schulen 8,7 Prozent der Schüler mindestens einmal verschreibungspflichtige Arzneimittel zur Berauschung konsumiert haben.
Welche Arzneimittel werden als Drogen missbraucht?
Zu den am häufigsten konsumierten Substanzen gehören Benzodiazepine, verschreibungspflichtige und psychoaktive Beruhigungsmittel, die bei Angst- oder Schlafstörungen und bei Spannungszuständen eingesetzt werden. Neben diesen Tranquilizern werden auch Opioide, also schmerzlindernde und sedierende Arzneimittel häufig missbräuchlich eingesetzt.
Der Inhaber der Würzburger Stern Apotheke, Dr. Michael Sax, erklärt im Interview mit Nordbayern.de das Suchtpotenzial und die Gefahr, welche diese Substanzen mit sich bringen: "Beim Missbrauch von Opioiden und Benzodiazepinen können schwere Leberschäden, Herzrhythmusstörungen und starke Veränderungen der Psyche auftreten. Eine Überdosierung von Opioiden kann sogar im schlimmsten Fall zu schwerer Atemdepression und damit zum Tod führen." Gerade die Ausbildung einer Abhängigkeit sei bei diesen Medikamenten besonders tückisch. Hier müsse zwischen einer tatsächlichen Suchterkrankung und einer Gewöhnung, die aufgrund einer Dauerbehandlung wegen einer medizinisch notwendigen Behandlung eintreten kann, unterschieden werden. "Die Abgrenzung dazwischen ist sehr unscharf", beschreibt Sax.
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Sax erklärt, dass man als Apotheker schnell erkennen könne, ob ein Kunde die verschreibungspflichtigen Medikamente missbräuchlich einnehmen will. Der Apotheker spricht aus Erfahrung: "Gerade wenn Kunden auf Nachfragen zum Krankheitsbild kaum Aussagen treffen können oder den Kauf möglichst schnell abwickeln wollen, ist das ein Grund, skeptisch zu werden." Im Zweifelsfall sind Apotheken dazu angehalten die Ausgabe der Arzneimittel zu verweigern, auch dann, wenn die Kunden ein ärztliches Rezept vorlegen können. Auch wenn Apotheker ärztliche Verordnungen beliefern müssen, dürfe man bei einem Verdacht die Substanzen nicht aushändigen."
Norbert Wittmann, der Geschäftsführende Vorstand der Alternativen Jugend- und Drogenhilfe "mudra" in Nürnberg beobachtet ebenfalls einen Anstieg der Medikamentenabhängigkeit: "Der Missbrauch von Medikamenten hat weltweit stark zugenommen, das ist auch in Deutschland zu beobachten. Grund dafür können unter anderem neue Zugangspunkte zu diesen Substanzen sein, beispielsweise über Online-Apotheken." Auch die Thematisierung der Substanzen in der Hip-Hop-Szene könnte bei der Ausbreitung eine Rolle spielen, meint Wittmann. Gerade Benzodiazepine hätten in einigen Konsumenten-Kreisen einen regelrechten Kultstatus erlangt. Ein weiterer Grund für die einfachere Verfügbarkeit könne Wittmanns Ansicht nach auch die simple Herstellung und der weniger komplizierte Schmuggel von Arzneimitteln, im Vergleich zu klassischen Betäubungsmitteln, wie Heroin oder Kokain sein.
Auch David Schäfer, der stellvertretende Leiter der psychosozialen Beratungsstelle für Suchtkranke der Caritas Nürnberg, sieht eine vergleichsweise einfache Beschaffung von Benzodiazepinen oder Opioiden für Konsumenten: "Die Verfügbarkeit ist leichter, wenn mehr Medikamente verschrieben werden. Sicher spielt hier auch der Verkauf im Internet oder im Darknet eine Rolle."
Sax widerspricht dieser Annahme: "Leichter zu beschaffen sind diese Substanzen sicherlich nicht." Konsumenten müssten hier drei Hürden bewältigen: "Das Rezept eines Arztes, eine Apotheke, die die Medikamente aushändigt und außerdem müssen die Arzneimittel auch aus der eigenen Tasche gezahlt werden", erklärt der Würzburger Apotheker.
Doch woher kommt der Trend zum Medikamentenmissbrauch? Wittmann erklärt sich das durch gesellschaftlichen Druck: "Gerade der Zwang zu Funktionalität und Überschleunigung hat in unserer Leistungsgesellschaft einen hohen Stellenwert. Wer nicht funktioniert, der versucht mit Substanzen diese Dysfunktionalitäten auszumerzen." Medikamente stoßen im sozialen Umfeld häufiger auf Akzeptanz und Verständnis. "Außerdem ist es unauffälliger, während der Arbeit Tabletten zu nehmen, als zehn Flaschen Bier zu trinken", erläutert Schäfer.
Auch wenn Schäfer zwar davon ausgeht, dass es sich bei dem Medikamentenmissbrauch bei jungen Menschen meist um einen ein- bis zweimaligen Probierkonsum handle, sei die Präsenz in der Popkultur problematisch. Die Effekte der Medikamente auf den Körper und die Psyche sind enorm. Auch der Entzug und eine anschließende Therapie sind sehr zeitaufwendig und anstrengend. Schäfer erklärt, dass bei Benzodiazepinen die Dosis Schritt für Schritt reduziert werden müsse, dies könne bis zu sechs Wochen dauern. Doch damit ist es nicht genug. "Typische Symptome nach einem Entzug sind Unruhe, Schlaflosigkeit oder Probleme mit der Konzentration", erklärt der Suchtberater, "Bei schweren Verläufen oder plötzlichem Absetzen können aber auch Krampfanfälle, schwere Depressionen, Delir oder Psychosen auftreten."
Ziel eines nachhaltigen Entzuges sei es, eine drogenfreie Alternative zum Suchtmittel zu finden. "Wie befriedige ich nachhaltig und ohne Sucht meine Bedürfnisse? Das ist der Fokus in guter Drogenhilfe", ist sich Wittmann sicher.
Doch eine Frage bleibt offen: Wieso lagen Arzneimittel zur Berauschung trotz des offensichtlichen Problems so lange unter dem Radar? Die Suchtberater fordern mehr Aufklärung und Prävention. So kann sich Schäfer vorstellen: "Eine Möglichkeit wäre, solche Medikamente nicht mehr über Privatverschreibungen laufen zu lassen, sodass Ärzte einen Missbrauch über die Daten der Krankenkasse schneller feststellen können."
Wittmann fordert mehr Unterstützung für die ambulanten Hilfseinrichtungen. "Zunehmend viele Konsumenten sind im Leben integriert und können einen langen stationären Aufenthalt weder mit Familie noch mit Beruf vereinbaren. Gerade für die Zeit nach der Pandemie müssen wir hier investieren", sagt der mudra-Geschäftsführer, denn es sei schon jetzt ein Anstieg der Hilfegesuche wegen der Corona-Pandemie zu beobachten. Zudem fehle es aktuell in den Schulen an Aufklärung und Austausch, kritisiert Wittmann: "Vielleicht wäre auch ein Fach ‚Sozialkompetenz‘ sinnvoll. So hätten Lehrkräfte die Möglichkeit, für junge Menschen Ansprechpartner für soziale Themen, die digitale Welt, Rassismus, Ernährung oder auch für Suchtthematiken zu sein."
Sollten Sie oder Menschen in Ihrem Umfeld aufgrund Ihrer Abhängigkeit Hilfe benötigen, erreichen Sie die Psychosoziale Beratungsstelle der Caritas unter 0911 / 2354181. Die Alternative Jugend- und Drogenhilfe "mudra" ist Montags, Donnerstags und Freitags von 10 bis 13 Uhr und Dienstags von 10 bis 13 Uhr und von 16 bis 18 Uhr unter 0911 / 8150 100 zu erreichen.
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