Erschreckende Zahlen: Einsamkeit ist eine "Epidemie im Verborgenen"
5.5.2021, 05:56 UhrBeinahe rührend ist die Geschichte mit der Maus. Michel Siffre versucht, sie zu fangen, mit ein paar Tropfen Marmelade und einem Topf. Er glaubt, sein Leben könnte davon abhängen, mit der Maus will er sich anfreunden – es ist sonst niemand da.
Das Experiment des Höhlenforschers Siffre, durchgeführt im Auftrag der US-Raumfahrtbehörde Nasa, machte 1974 Schlagzeilen, der damals 33 Jahre alte Franzose verbrachte, für Studien zur Schlafforschung, sechs Monate allein in einer Höhle. Er wurde versorgt, er konnte, bei angenehmer Raumtemperatur, lesen, schreiben, Musik hören. Dreimal am Tag sprach er per Funk mit den Betreuern. "Körperlich war es leicht", sagte Siffre hinterher, "psychisch war es die Hölle." Er glaubte, verrückt zu werden, und kämpfte noch jahrelang gegen Lethargie, Gedächtnisschwächen, Depressionen.
"Epidemie im Verborgenen"
Einsamkeit. Eine "Epidemie im Verborgenen" nennt es das Internationale Rote Kreuz, dasselbe Wort verwendet Manfred Spitzer. "Wie eine Epidemie", schreibt der populäre Neurowissenschaftler und Psychiater aus Ulm, breite sich das Phänomen aus. "Ansteckend sein und tödlich verlaufen" könne "Einsamkeit, die unerkannte Krankheit", erklärt er in seinem gleichnamigen Buch.
Es erschien zwei Jahre vor Beginn jener Pandemie, die jetzt die Welt im Griff hat, die Einschätzung des Roten Kreuzes ist noch älter. Was passieren könnte, würde sich ein gemeines Virus global ausbreiten und Menschen in die Isolation zwingen, war damals noch kein Gedanke, Corona war noch nicht einmal eine Vorstellung. Jetzt, im Frühjahr 2021, könnte die Lage ambivalenter kaum sein: Die Maßnahmen gegen die eine Pandemie, Covid-19, verbreiten eine andere Pandemie, die der Einsamkeit – und Einsamkeit lähmt die Widerstandskräfte.
Warnung vor Langzeitfolgen
Jetzt ringt die Politik um Perspektiven, um erste Schritte in die Freiheit, um Auswege aus einem kaum auflösbaren Dilemma: Was der Mensch seelisch dringend bräuchte – Nähe, Gemeinschaft, Liebe –, würde ihm körperlich schaden. Was das anrichtet, lässt sich noch nicht seriös einschätzen, es gibt keine belastbaren Prognosen – aber weltweit warnen Experten vor psychischen Langzeitfolgen, die sich nicht in Inzidenzzahlen fassen lassen.
Odysseus, Jesus in der Wüste, Robinson Crusoe, Kaspar Hauser: Einsamkeit hat die Menschen immer auch fasziniert; "eine Quelle des Glückes, der Gemütsruhe", nannte sie vor 200 Jahren der Philosoph Arthur Schopenhauer. Die einsame Insel als beliebtes Gedankenspiel: Was würde man mitnehmen? Neuere Erkenntnisse fallen aber bedrückend aus. Einsamkeit ist zwar (noch) keine definierte Krankheit, aber dass sie vor allem ein Leiden bedeuten kann, belegten in jüngerer Vergangenheit erschreckende Zahlen.
Allerdings: Es sind vage Zahlen. Isolation, wie sie jetzt zur Pandemie-Bekämpfung verordnet wird, ist messbar – und nicht unbedingt dasselbe wie Einsamkeit. Einsamkeit gehört zu den Folgen von Isolation, ist aber ein sehr individuelles Gefühl, für das es keine verbindliche Diagnose gibt. Es geht über das Alleinsein hinaus, man kann sogar Forschungsarbeiten lesen, die von einer genetischen Veranlagung ausgehen: Ein Hang zur Einsamkeit könnte zum Teil im Erbgut angelegt sein.
Man weiß noch zu wenig darüber. Sicher ist: Dieses Gefühl existiert unabhängig von der sozialen Umgebung und vom Lebensalter, schon Kindergartenkinder kennen es, und es wird als belastend empfunden.
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Einsamkeit junger Menschen
Es gibt Studien, wonach junge Erwachsene am häufigsten darunter leiden – das Meinungsforschungsinstitut YouGov beziffert ihre Zahl in Deutschland auf aktuell knapp 50 Prozent –, andere gehen von hohen Zahlen ab etwa der Lebensmitte aus. Laut einer Umfrage des Instituts Splendid Research von 2019 fühlten sich 17 Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam. Das Statistische Bundesamt der (wohlhabenden) Schweiz legte vor vier Jahren erstaunliche Zahlen vor, laut denen sich 38 Prozent der Bevölkerung einsam fühlten.
Über die Ursachen wird kontrovers debattiert. Sicher ist: Nichts hat das menschliche Zusammenleben so drastisch verändert wie der Beginn der industriellen Revolution vor über 200 Jahren. Jahrtausende alte Strukturen lösten sich im gleichen Tempo auf, mit dem der Fortschritt voranging. Familien und Familienverbände hatten seit der Steinzeit das Leben bestimmt, sie zogen die Kinder auf, die später die Pflegeversicherung der Alten wurden, sie pflegten ihre Kranken, alle arbeiteten gemeinsam im (landwirtschaftlichen oder später handwerklichen) Familienbetrieb. Das hatte seinen Preis: Der einzelne Mensch wäre ohne einen solchen Sozialverband verloren gewesen.
Der Verlust von Familien
Aber jeder konnte sich – in dieser Abhängigkeit – auf den Verband verlassen, auf einen emotionalen Rückhalt. In Krisenzeiten blieb den Menschen gar nichts anderes übrig, als zusammenzuhalten, dazu musste man sie, anders als jetzt in der Corona-Krise, nicht erst auffordern.
An die Stelle der alten Verbände traten der Markt und der Staat, die heute das Leben umfassend regeln und organisieren. Mit dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt lösten sie das Individuum aus den Familien, versprachen Freiheit, Aufstiegsmöglichkeiten, Selbstverwirklichung. Das Versprechen gilt, der Mensch ist flexibel, mobil und weniger gebunden. Der liberale Humanismus und der Markt verschafften dem Individuum eine in der Weltgeschichte einzigartige Bedeutung. Aber um welchen Preis? Das ist gerade eine sehr aktuelle Frage.
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Wie in der Wahnwelt?
Emotionale Bedürfnisse können weder Markt noch Staat befriedigen, man sieht das sehr deutlich in diesen Pandemie-Zeiten. Die Politik greift massiv ins Leben der Menschen ein, sie muss es tun – aber lässt die Individuen im Umgang damit allein. Und die Zweckgemeinschaften des 21. Jahrhunderts – Soziale Medien, Freizeitaktivitäten, Marken-Identitäten – haben nur eine schwache Bindungskraft. Gerade die Digitalisierung, die in der Pandemie das Leben zu organisieren helfen soll, "bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit", behauptet der Neurowissenschaftler Spitzer.
Das klingt zwar arg apodiktisch. Aber der in der modernen Welt vereinsamte Mensch ist vermutlich weder ein Klischee von Fortschrittsskeptikern noch ein stilisierter literarischer Topos. Das Gefühl, einsam zu sein, ist in fast allen Umfragen mit Beginn der Corona-Krise noch leicht angestiegen. Und Einsamkeit könnte – wie in der scheinbaren Wahnwelt des Höhlenforschers Siffre – tatsächlich lebensbedrohlich sein. Laut einer britischen Langzeitstudie haben 50 bis 59 Jahre alte Menschen mit wenig Sozialkontakten ein um 25 Prozent höheres Risiko, innerhalb von zehn Jahren zu sterben.
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Das Gehirn schrumpft
Das Gehirn schrumpft, wenn Menschen über längere Zeit einsam sind. Und auf die Herz-Kreislaufgesundheit, sagt eine kanadische Studie, haben soziale Kontakte größeren Einfluss als Ernährung, Körpergewicht und sportliche Aktivitäten. Laut Spitzers Erkenntnissen erkranken einsame Menschen häufiger an Krebs, Schlaganfällen oder Depressionen. Unstrittig ist das alles nicht, andere Forscher halten es für ein Problem von Ursache und Wirkung: Menschen vereinsamen, wenn sie krank sind. Depressionen können auch die Ursache von Einsamkeit sein, nicht die Folge.
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In der Sprache des Marktes heißt das, so oder so: Der Mensch funktioniert nicht mehr, und das belastet die Gesellschaft. Ihren Appell an die Bundesregierung, sich des Themas verstärkt anzunehmen, trug Maria Klein-Schmeink, Gesundheitsexpertin der Grünen, schon vor zwei Jahren mit dem Hinweis vor, dass "sich jede Investition gegen Einsamkeit auch wirtschaftlich lohnt" – zynisch muss man das nicht finden, Wissenschaft und Forschung werden meistens erst gefördert, wenn es um Geld geht, um zu erzielende Gewinne oder um das Vermeiden von Verlusten.
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Was die Regierung wollte
Die Politik beschäftigte sich – das fällt jetzt besonders auf – vor der Pandemie intensiver mit dem Phänomen der Einsamkeit. "Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen", steht im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung. Initiativen folgten allerdings zaghaft bis gar nicht, und die Corona-Pandemie hat – ironischerweise – die Debatte vorerst beendet.
Ein "Versagen" warf deshalb der FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann, Facharzt für Innere Medizin, im Dezember des vergangenen Jahres der Bundesregierung vor, "wir sollten nicht so naiv sein zu glauben, dass radikale Umwälzungen wie die Digitalisierung sich nicht auf der psychosozialen Ebene auswirken", sagte er und sprach von einer "Pandemie der Einsamkeit", einem "Tsunami von Vereinsamung".
Ministerium für Einsamkeit
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wünscht sich einen Regierungsbeauftragten für Einsamkeit – nach dem Vorbild von Ländern wie Japan, Großbritannien, Dänemark oder Australien, wo Einsamkeit zum ernstzunehmenden Problem für die öffentliche Gesundheit erklärt worden ist. Großbritannien hat seit 2018 sogar ein Ministerium für Einsamkeit.
Dafür gab es Beifall – aber auch Spott. Die Politik, bemerkten viele Meinungsführer, habe die Menschen doch erst in die Einsamkeit getrieben, weil sie ihre Nöte und Sorgen aus dem Blick verloren habe. Die Sätze klingen im Pandemie-Jahr 2021 befremdlich aktuell.