Hinterbliebene klagt an: Einsames Sterben in der Corona-Zeit

10.5.2020, 16:00 Uhr
Hinterbliebene klagt an: Einsames Sterben in der Corona-Zeit

© Hans-Joachim Winckler

Die 87-jährige Steinerin Erika Mehl lebte zuletzt im Schwabacher Awo-Pflegeheim. Von Januar an ließen ihre Kräfte nach, sagt Tochter Sigrid Breitenbach. Mitte März saß die 57-Jährige mit ihrer Schwester noch einmal am Bett der Mutter.

Trotz der Schutzmasken erkannte die demente alte Dame ihre Töchter. Sie nannte beide beim Namen, versicherte sich wieder und wieder: "Gell, ihr kommt noch mal? Ihr lasst mich nicht allein?" Die Schwestern, die für gewöhnlich mehrmals pro Woche vorbeischauten, versprachen: "Mama, wir lassen dich nicht im Stich."

Sterbebegleitung eigentlich erlaubt

Um diese Zeit begann in Bayern der Shutdown. Am 13. März kündigte Ministerpräsident Söder an, das Besuchsrecht in Altenheimen zum Schutz der Senioren "massiv" einzuschränken, drei Tage später rief er den Katastrophenfall aus. Sterbebegleitung blieb ausdrücklich erlaubt. Eigentlich.

Sigrid Breitenbach sagt, man habe sie und ihre Schwester nicht mehr zur Mutter gelassen. "Die haben einfach zugemacht." Ihr Flehen sei abgeprallt an Verweisen auf das Besuchsverbot, Ansteckungsrisiko, Hausrecht.


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Verzweifelt suchten die Schwestern Hilfe – beim Hospizverein, Pflegestützpunkt, Ministerium für Gesundheit und Pflege. Auch dass der Hausarzt eine Palliativsituation bescheinigte, so Breitenbach, nützte nichts. Die Schwestern konnten sich nur noch beim Pflegepersonal nach der Mutter erkundigen.

"Totale Willkür"

Erika Mehl starb am 31. März. Ihre Todesanzeige enthielt die bittere Klage: "Wir durften von ihr nicht Abschied nehmen." Sigrid Breitenbach hätte die harte Haltung der Heimleitung verstehen können, wenn es in dem Awo-Heim infolge von Covid-19 Todesfälle gegeben hätte. So aber empfand sie sie als "totale Willkür".

Für Reiner Redlingshöfer, Pfarrer der Paul-Gerhardt-Kirche in Stein, handelt es sich um einen besonders tragischen, aber nicht um einen Einzelfall. Allein er habe bei drei von sechs Bestattungen erfahren, dass sich Angehörige nicht verabschieden konnten, weil einzelne Einrichtungen das Besuchsverbot "so strikt" auslegten.


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Gegenüber den FN reagiert nicht der Schwabacher Awo-Heimleiter, sondern der Vorstand Pflege und Psychiatrie im Awo-Kreisverband Mittelfranken-Süd auf die Vorwürfe. Rainer Mosandl äußert sein Bedauern über Erika Mehls Tod. Er habe "vollstes Verständnis" für die Familie. Zugleich wirbt er um Verständnis für das "moralische Dilemma" der Einrichtungen: Verweigerten Heimleiter Besuche, stießen sie die jeweilige Familie vor den Kopf und setzten sich dem Vorwurf aus, unmenschlich zu handeln. Duldeten sie trotz Verbots Besuche, riskierten sie das Leben von Bewohnern und Belegschaft. "Wir haben allgemein sehr streng darauf geachtet, Gefahrenquellen zu minimieren", sagt Mosandl. "Und ich bin froh um jedes Haus, in dem wir keinen Corona-Positiven haben."

Pfarrer Redlingshöfer erlebt die Verzweiflung der Hinterbliebenen. Ein Sterbender, berichtet er, habe seine Frau am Telefon gefragt: "Warum kommst du nicht?" Nach dem Tod ihres Mannes hallen die Worte in der Frau nach. Sie werfe sich vor, dass sie energischer auf ihr Besuchsrecht hätte pochen sollen.

Dekane sehen Staat in der Pflicht

Der Langenzenner Pfarrer Friedrich Schuster wiederum weiß von Menschen, die ihre Angehörigen nicht beim Sterben begleiten konnten, weil es an Schutzkleidung fehlte. Ihre Betroffenheit über den verpassten Abschied mischt sich nach seiner Schilderung in die Trauer über den Verlust.

Die drei Dekane im evangelischen Dekanat Fürth – neben Friedrich Schuster sind das Almut Held und Jörg Sichelstiel – zeigen Verständnis für das Bemühen aller Beteiligten. Sie verweisen aber auch auf das Bundesverfassungsgericht, demzufolge Sterbende das Recht hätten, ihre Verwandten zu sehen. Die Dekane sehen somit den Staat in der Pflicht. Er habe auch für die nötigen Bedingungen zu sorgen, also Schutzausrüstung zu beschaffen und gezielt Corona-Tests für Pflegende und Angehörige (etwa bei der nicht ausgelasteten Fürther Drive-Through-Teststation) anzubieten.


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Seniorenvertretungen vom Fürther Seniorenrat und dem Pflegestammtisch Nürnberg-Fürth bis zur Landesseniorenvertretung Bayern und dem BIVA-Pflegeschutzbund fordern ebenfalls mehr Tests und eine Ausstattung der Heime mit Schutzausrüstung nach dem Vorbild der Kliniken.

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