Sozialverbände befürchten enorme Probleme

"Mit den Kräften am Ende": Diesen Schaden könnte die Impfpflicht verursachen

André Ammer

Thementeam Regionale Reporter:innen und Breaking News

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04.02.2022, 06:00 Uhr

© Ute Grabowsky/imago images

"Dass soziale Einrichtungen vor dem Kollaps stehen, weil sich der Fachkräftemangel immer mehr zuspitzt, ist keine Übertreibung, sondern eine Tatsachenbeschreibung", haben Nicole Schley und Stefan Wolfshörndl, die Landesvorsitzenden der bayerischen Arbeiterwohlfahrt (Awo), anlässlich der Wachablösung an der Spitze der Freien Wohlfahrtspflege Bayern erklärt. Turnusgemäß wechselt der Vorsitz dieses Zusammenschlusses der sechs sozialen Spitzenverbände im Freistaat jedes Jahr, und nun gab Margit Berndl vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Bayern den Stab an die neue Doppelspitze weiter.

Ein Wechsel in turbulenten Zeiten, denn für sämtliche Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege - von der Altenpflege über die Eingliederungshilfe und die niedrigschwelligen Beratungsangebote bis zur Kinder- und Jugendhilfe - zeichnen sich erhebliche zusätzliche Probleme in den kommenden Wochen ab. Und teilweise ganz andere Probleme, als Margit Berndl vor einem Jahr den Vorsitz übernommen hatte. Da steckte Deutschland mitten in der zweiten Welle, und im Zuge der gerade gestarteten Impfkampagne sorgten angesichts des da noch knappen Impfstoffs Impfdrängler und nicht Impfverweigerer für Schlagzeilen.

"Nicht zu Ende gedacht"

Nun verschärft die nach Ansicht von Berndl "nicht zu Ende gedachte" einrichtungsbezogene Impfpflicht die ohnehin vorhandene Personalnot. Die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten, die seit zwei Jahren am Limit arbeiten und zum Teil mit Schutzausrüstung ihre Aufgaben erfüllen müssen, fühlten sich stigmatisiert und an den Pranger gestellt, kritisiert die scheidende Vorsitzende. Unter anderem wachse die Gefahr, dass die Versorgung von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen eingeschränkt werden müsse.

Erschwerend komme hinzu, dass nicht nur Pflegekräfte, sondern auch alle anderen Beschäftigten in diesen Einrichtungen von dieser Impfpflicht betroffen seien. "Viele dieser Arbeitnehmer aus der Hauswirtschaft, der Haustechnik oder von den Fahrdiensten können problemlos in andere Branchen abwandern", warnt Berndl.

Wie viele Mitarbeiter aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht mittelfristig in der Pflege und in der sozialen Arbeit fehlen werden, können die Sozialverbände angesichts der uneinheitlichen Lage nicht genau beziffern. "Die Impfquoten unterscheiden sich von Einrichtung zu Einrichtung sehr deutlich, im Schnitt liegt die Impfquote aber bei 85 bis 95 Prozent", erklärt Berndl. Man habe allerdings jetzt schon einige vorsorgliche Kündigungen auf dem Tisch, auch wenn man auf keinen einzigen Mitarbeiter verzichten könne.

Um die Betreuung sicherzustellen, helfen inzwischen Bundeswehr-Soldaten in einigen Pflegeeinrichtungen aus. "Viele Folgen bleiben aber unsichtbar für die Allgemeinheit, zum Beispiel wenn ein ambulanter Pflegedienst keine weiteren Patienten mehr aufnehmen kann", gibt Berndl zu bedenken.

Schon jetzt merkliche Abwanderungsbewegungen

Aktuelle Zahlen der Arbeitsagentur deuten darauf hin, dass bereits merkliche Abwanderungsbewegungen eingesetzt haben. So haben sich zwischen Mitte Dezember und Mitte Januar dieses Jahres 2891 Pflegerinnen und Pfleger in Bayern arbeitssuchend gemeldet, im Monat davor waren es nur 862. "Das ist zumindest ein Fingerzeig dafür, dass sich ein Teil der Beschäftigten anderweitig orientiert", sagt Berndl.

Die Branche steuere auf eine sehr schwierige, wenn nicht katastrophale Lage zu, wenn die einrichtungsbezogene Impfpflicht am 16. März umgesetzt wird. Zu viele Fragen seien noch ungeklärt, zum Beispiel ob die Gesundheitsämter personell überhaupt in der Lage sind, die vielen Einzelentscheidungen zeitnah zu treffen. "Entsteht ein Flickenteppich in der Entscheidungslandschaft?", fragt sich das Vorstandsmitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und appelliert an die politisch Verantwortlichen, die einrichtungsbezogene Impfpflicht auszusetzen, bis die vielen noch offenen Fragen geklärt sind. "Die Einrichtungen brauchen Verlässlichkeit und Planbarkeit", betont Margit Berndl.

Nach zwei Jahren Pandemie sei es außerdem überfällig, dass die Aufwertung von Sorgeberufen, also auch Jobs im Bereich der Erziehung und der Sozialpädagogik, ganz oben auf die politische Agenda kommt. Statt netter Worte und einmaliger Boni sind strukturell bessere Vergütungen und Arbeitsbedingungen notwendig, um das Personal zu halten und neue Menschen für diese Berufe zu gewinnen.

Alle Träger suchen händeringend nach Personal

Laut Stefan Wolfshörndl suchen sämtliche Träger händeringend nach Personal und müssen sich inzwischen mit Leiharbeitsfirmen auseinandersetzen, die diese Notlage ausnützen und Mondpreise aufrufen. "Da geht es nur noch ums Kasse machen", kritisiert Berndls Nachfolger. Im Extremfall mussten auch schon Stationen oder ganze Einrichtungen mangels geeignetem Personal geschlossen werden.

Schon jetzt bräuchte die Branche laut Wolfshörndl in Bayern eigentlich etwa 80.000 zusätzliche Kräfte, um die Pflege sicherzustellen. Und bis 2050 werden es wohl doppelt so viel sein, wenn sich an dieser Entwicklung nichts ändert. Aus einzelnen Bezirken habe man Rückmeldungen bekommen, dass dort schon jetzt bis zu 15 Prozent des Personals fehlen. In manchen Einrichtungen müssen Beschäftigte derzeit Zwölfstundenschichten stemmen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. "Das geht mal eine Zeit lang, aber nicht dauerhaft", warnt Wolfshörndl.

Auch in der Kinder- und Jugendhilfe war die Situation schon vor Corona angespannt. Fachleute haben prognostiziert, dass in Bayern bis 2030 etwa 37.000 Fachkräfte in den Kitas fehlen werden. "Viele Beschäftigte sind mit ihren Kräften am Ende", warnt Nicole Schley - auch weil das Regelungschaos mit immer neuen, extrem kurzfristig eingeführten Neuerungen für zusätzliche Belastungen und mangelnde Planungssicherheit sorge. Eine ganze Reihe von Kitas im Freistaat musste deshalb zeitweise schließen.

Und laut der Awo-Landesvorsitzenden besteht die Gefahr, dass weitere Arbeitskräfte in andere Branchen abwandern, wenn die Situation so belastend bleibt und die einrichtungsbezogene Impfpflicht tatsächlich kommt. Für den Bezirk Oberbayern sei vor Kurzem abgefragt worden, wie viele Beschäftigte in der Kinder- und Jugendhilfe sich trotz der drohenden beruflichen Konsequenzen auf keinen Fall impfen lassen werden. Dabei sei man auf eine Quote von sechs Prozent gekommen. Sollten diese Arbeitskräfte tatsächlich in absehbarer Zeit fehlen, könnte die eine oder andere Einrichtung einen geregelten Betrieb wohl nicht mehr aufrechterhalten.

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