19. Juni 1970: Seit 25 Jahren lebt er unter Trümmern

S. R.

19.6.2020, 07:00 Uhr
19. Juni 1970: Seit 25 Jahren lebt er unter Trümmern

© Fischer

Seit 25 Jahren muß der 1,68 Meter große B. Tag für Tag den Kopf einziehen, wenn er seine Küche betritt. Denn diese Funktion erfüllt ein alter Wehrmacht-Lastwagen, an dessen Wänden der Rost frißt. Nach dem Bombardement im Februar 1945 bot der Laster dem Ehepaar B. die erste notdürftige Bleibe und ist es noch heute. B., von Beruf Mechaniker, nietete aus Blechscheiben von Untertassengröße ein zweites Dach zusammen. Darunter steht heute ein alter Elektroherd, ein Kohleofen und ein Tisch, auf dem der Rentner kocht, ißt und schreibt. In fleißiger Bastelarbeit hat er sich Lichtleitungen gelegt.

Der Baum im Kamin

Dort, wo früher die Küche aus festen Mauern gefügt war, ist aus dein Kamin ein kräftiger armdicker Baum gewachsen. Mauerreste und Dachbalken stehen und liegen so, wie die Bombenexplosionen sie hinterlassen haben. Nur die Wasserleitung ist noch intakt.

19. Juni 1970: Seit 25 Jahren lebt er unter Trümmern

© Fischer

Im Hinterhaus wurde 1945 ein Schlafzimmer notdürftig ausgebaut, in dem die Familie schlief, bis die Frau starb. Hier wuchs auch der heute 23jährige Sohn auf, bis er heiratete und auszog. Der 79jährige Vater schläft seitdem allein in dem Haus. Das Wohnen war ihm allerdings nie so wichtig wie seine kleine Mechaniker-Werkstatt im halbzerstörten Nebengebäude.

Sein Heiligtum

Sie ist mit Maschinen Marke Eigenbau ausgerüstet. Hier riecht es nach Öl, oder „stinkt es nach Arbeit“, wie B. sagt. Mit Feinbohrarbeiten für Motorrad- und Autozylinder verschafft er sich einen geringen Nebenverdienst zu seiner 180-Mark-Rente. An dieser Werkstatt hängt er am meisten. „Sie ist mein Heiligtum“, sagt er. „Wenn ich aus der Werkstatt vertrieben werde und nicht mehr arbeiten kann, will ich nicht mehr leben.“

B. hängt an seinen Trümmern. Mit einem Besen kehrt er sich fein säuberlich einen Weg durch das heillose Durcheinander. Vom Feuer vernichtete Rundschleifmaschinen, ein altes Auto, verrostete Motorrad- und Fahrradgestelle liegen auf dem Grundstück umher. Dazu Kochtöpfe, Schüsseln und anderes mehr. B. weiß, daß er in menschenunwürdigen Verhältnissen lebt, aber er möchte dieses Leben nicht aufgeben. „Ich bin hier geboren und damit verwachsen.“

Für Grundstückseigentümer kein Verlust

B. soll beileibe nicht enteignet werden. Die Stadt hat einen Umlegungsplan ausgearbeitet, damit das ganze Viertel an der Albrecht-Dürer-Straße endlich bebaut werden kann. Bislang war dies aufgrund der gegebenen Eigentumsverhältnisse und zum Teil winzigen Grundstücksflächen nicht möglich. Das Umlegungsverfahren bedeutet bildlich gesprochen, daß alle Grundstücke in einen Topf geworfen und dann neu zugeteilt werden, so daß keinem Grundstücksinhaber ein Eigentumsverlust entsteht.

Auch B. und seine beiden Brüder sollen nach dem Entwurf ein fast gleichgroßes Grundstück erhalten, das sich sogar geographisch fast mit dem jetzigen Grundstück deckt. Nur: die Ruine muß verschwinden, und damit die Behausung des Rentners. Stattdessen räumt die Stadt B. im gegenüber liegenden Turm Lebenszeit im Turm „Grünes M", auf Lebenszeit Wohnrecht ein.

Die Räume in dem Turm sehen nicht sehr ermutigend aus. Die Mauern sind dick und naß, Treppen und Fußböden teilweise verfault. B.: „In der Tropfsteinhöhle werde ich nicht alt.“ Doch täte man der Stadt unrecht, wollte man behaupten, sie wolle diesen Zustand ignorieren.

Der Leiter des Stadtvermessungsamtes, Direktor Hubertus Hildebrandt: „Wir wissen: hier muß gründlich renoviert werden, und die Mittel dazu – mehr als 10.000 DM – sind schon bereitgestellt.“

Trotzdem mag sich B. mit dem neuen Heim und seinem Spülklosett in einer Schießscharte nicht anfreunden. Der härteste Schlag aber wäre für ihn der Verlust der Werkstatt. Dabei würde die Stadt für dieses Opfer etwas springen lassen. Sie wäre bereit, ihm für die Werkstatteinrichtung eine lebenslängliche Rente von 250 DM zu gewähren.

Der Mechaniker hat Stadträte und Abgeordnete um Hilfe gerufen. Die Volksvertreter informierten sich bei den Behörden. Gegenwärtig sieht die Rechnung so aus:

1.Der Erbengemeinschaft B. bleibt das Grundstück mit nur geringen Einbußen erhalten. 2. B. erhält Wohnrecht auf Lebenszeit im Turm „Grünes M“, dessen Räume für über 10 000 DM renoviert werden. Für Werkstatteinrichtung und Verdienstausfall erhält er eine lebenslange Rente von 250 DM.

Aber das Bewußtsein, auch im Alter noch etwas zu leisten und nicht nutzlos zu sein, ist mit Geld kaum zu bezahlen. Vermessungsdirektor Hildebrandt: „Natürlich sehen wir die menschliche Tragik. Wir hatten nie einen schwierigeren Fall als diesen.“