21. Januar 1971: Flatter- und Lästerzungen

21.1.2021, 07:00 Uhr
21. Januar 1971: Flatter- und Lästerzungen

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Der Beginn war friedlich: Mendelssohns Trompeten-Ouvertüre. Das wirksame Werk wurde mit der gebührenden Begeisterung aufgenommen. Der Warschauer Professor Stanislaw Wislocki, nicht nur engagierter Dirigent der Ars Nova, hatte es mit den beispielhaft willfährigen Nürnberger Symphonikern ebenso energisch wie behutsam ausgearbeitet: energisch im Fanfarenbereich, in der versierten kontrapunktischen Bewegung; behutsam da, wo Mendelssohns Liebe zu Elfenstimmungen sich in feinstaccatierten Holzbläserpassagen und zärtlichem Geigenflüstern oder in sanglicher Themengefälligkeit auslebt.

Das Ende war versöhnlich: Schumanns „Frühlingssymphonie“. Wislocki bot sie liebevoll im Detail, großlinig im Gesamtbild, präzis in der Ausführung. Er schuf Höhepunkte von gebändigter Kraft und ließ melodiöse Innigkeit beseelt ausschwingen. Er vermied die Ekstasen impulsiven Engagements und war auch in den Tempi vorsichtig, beim Scherzo allzu vorsichtig: seine Deutung war klassisch nobel, ohne sich auf Schumanns Wort zu stützen, das Werk sei „in feuriger Stunde geboren“.

Avantgarde mit Verpackung

In so wohlgefälliger Verpackung hielt das Programm die Auftragskompositionen des fränkischen Avantgardismus bereit. Werner Heider ist als Komponist und Dirigent ein arrivierter Mann der jüngsten Kunst. Vier respektable städtische Kulturpreise schmücken ihn, zwei Jahre weilte er als Stipendiat der Deutschen Akademie in Rom, 1969 wurde er mit dem Berlin-Stipendium ausgezeichnet.

Er erregte erstes Aufsehen durch seine Beschäftigung mit dem „Symphonischen Jazz“ und wechselte später in die kühlen, spekulativen Regionen des musikalischen Intellekts. Sein jetzt uraufgeführtes Posaunenkonzert ist ein Extremfall solch gehirngesteuerten Tonschöpfertums.

18 Ableitungen des Wortes „Einander“ regeln in 13 Stationen die Beziehungen der Soloposaune zum Orchesterkollektiv: von „voreinander“ über „durcheinander“ und „miteinander“ bis zu „aneinander“ und „hintereinander“. Das Stück fängt an wie Hindemiths „Mathis“: mit einem zur Verklärung hochinstrumentierten Dur-Akkord: A-Dur als entwaffnend-harmlose Anspielung auf den Vornamen „Albrecht“. Logischerweise schließt es in D-Dur: „Dürer.“

Keineswegs so läppisch, aber oft von spielerischer Geistreichelei bestimmt, sind die eigentlichen Stationen. Auf Klangverschiebungen in der Art des „mittleren“ Penderecki folgen Tonballungen, die Orchesterfarben fließen weich wie Nebel, um sich unversehens zu schneidender Schärfe zu härten.

Kein Gegenpol für Intellekt

Das Publikum hörte mit musischem Anstand zu. Es nahm Heidersche Heiterkeit mit Humor, spieltechnische Extrem-Kapriolen mit Aufmerksamkeit entgegen. Am Schlußbeifall beteiligten sich dann lautstarke, mit gellenden Pfiffen garnierte Buh-Chöre. Nun wäre es allzu oberflächlich, eine so kräftige Reaktionswilligkeit als Abonnentenspießertum abzutun.

Dieses Publikum ist ja mit den bedeutendsten musikalischen Erscheinungen vertraut, von Perotinus Magnus bis zu Schönberg, dessen konzertante „Moses und Aron“-Aufführung vor kurzem widerspruchslos akzeptiert wurde. Was es bei Heider vermißte, ist der Gegenpol des Intellekts. Es würde nichts schaden, wenn sich Heider um ihn wieder mehr kümmern würde.

Die Buh-Chöre nahmen bei Claus Hashagens Dürer-Impression „Die vier Apostel“ geradezu philharmonisches Ausmaß an. Der Nürnberger Funkstudio-Musikchef beschäftigt sich seit langem mit elektronischer Musik. Hashagen ist Ars-Nova-Spezialist führender deutscher Organisationen, viel aufgeführt bei den Festivals der Neuen Musik. Schon im März wieder ist er bei der Darmstädter Tagung des „Instituts für Neue Musik und Musikerziehung“ mit einer Ur- und einer Erstaufführung vertreten.

Seine „Vier Apostel“ standen von Anfang an in keiner günstigen Position. Nach der knappen Entfaltung eines sich steigernden Mischklangs trugen Paul Bösiger, Rainer Kretschmann, Herbert Lehnert, Leo Bieber und Helmut Kempken, von Erich Ude verhört. Texte aus einem Prozeß gegen „gottlose“ Dürer-Schüler vor. Das von Claus Henneberg besorgte Zitat-Arrangement blieb ohne musikalische Beteiligung und deshalb isoliert und zu lang wirkend. Daß man für den geringfügigen szenischen Bedarf im Programmbuch einen „Dialogregisseur“ und einen „Bildgestalter“ benannte, ist geradezu ein Witz.

Verfremdete Sprachfetzen

Im dritten Teil endlich setzten sich die akustischen Phänomene in Bewegung: ein großes Spezialorchester, vier meist vokalisierende Frauenstimmen (Krahl, Kienzl, Wendt, Puhlmann-Richter), Magnetophonmontagen und elektronisch verfremdete Sprachfetzen. Da kochte die Publikumsseele rasch über. Sie nahm die Haßler-Melodie „O Haupt voll Blut und Wunden“, die Jazz-Blitzlichter, die Banalitäten-Einblendungen als persönliche Verulkung.

Das ist nicht völlig unverständlich. Selbst die wenigen, die Adorno oder Konrad Boehmer studiert haben, brauchen ja mit ihnen nicht in allem gleicher Meinung zu sein. Beim strahlenden Collage-Einsatz des Meistersingervorspiels brach der bisher köstlichste Publikumssturm der Philharmonischen Konzerte aus, die Zuhörer begannen aleatorisch und improvisatorisch mitzuwirken. Als im vierten Teil die Stimme des Anklägers als vierstimmiger Kanon aus den Lautsprechern durcheinanderklang, dachten viele an eine Panne statt an Ionescos dem musikalischen Formbestand entlehnte sprachliche Spiegelverläufe.

Die Klangflächen und Tonstreuungen des letzten Teils gingen in den schätzungsweise 110 Phon der aus Lautsprecher, Orchester, Sängern, Applaus, Protestruf und Trillerpfeife gemischten Musique Concrète unter.

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