27. August 1969: Auch Arme sterben nicht früher

K. St.

27.8.2019, 07:03 Uhr
27. August 1969: Auch Arme sterben nicht früher

© Ulrich

Probleme medizinischer Akutbehandlung und der Präventiv-Maßnahmen werden auf die Stimmabgabe beim Wahlakt simplifiziert. „Wählst du richtig. lebst du ewig“ – „Wählst du falsch, mußt du früher sterben“.

Diese simplen Wahlkampf-Parolen reflektieren zumindest das weitverbreitete Unbehagen über die medizinische Daseinfürsorge. In der Tat, entspricht die soziale Gesundheitsfürsorge noch dem Stand moderner medizinisch-technischer Erkenntnisse? Oder wird der wissenschaftliche Fortschritt und die Heilkraft wirksamer, weil teurer Medikamente nur dem relativ kleinen Kreis zahlungskräftiger Privatpatienten zuteil.

Vieles verbesserungsfähig

In einem Gespräch mit den „Nürnberger Nachrichten“ versicherten übereinstimmend die Ärztekammer Bayern und die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Mittelfranken, im sozialen Krankenversicherungssystem sei zwar vieles verbesserungsfähig, doch niemand muß früher sterben, weil er arm ist.

Allerdings vergrößert der rasante wissenschaftliche Fortschritt gerade auf dem Gebiet der Medizin zunehmend die Kluft zwischen den neuesten Erkenntnissen und den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten der Kassen. Das gilt jedoch weniger für die Behandlung akuter Leiden, als vielmehr für das weite Gebiet der ärztlichen Vorsorge-Untersuchungen.

„Es ist nicht wahr, daß unsere Mitglieder an dem medizinisch-technischen Fortschritt nicht teilhaben dürfen“, bekräftigte AOK-Geschäftsführer Ernst Pirner. Die Ortskrankenkasse habe nicht nur zu der Entwicklung einer neuartigen „künstlichen Niere“ in der IV. Medizinischen Klinik finanziell beigetragen, sondern bezahle als Kassenleistung für jede Behandlung mit diesem Gerät einen Betrag von 220 DM. Bei einzelnen Patienten entstünden der AOK dadurch jährlich Kosten von über 20.000 DM. Im Falle einer Querschnittverletzung, die in einer Spezialklinik in Heidelberg behandelt werde, habe die Nürnberger Kasse eine erste Rechnung von über 30.000 DM erhalten und in voller Höhe anerkannt.

Kostenlimit für Hausärzte

Obwohl die AOK als öffentlich-rechtliche Körperschaft an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden sei, anerkenne die AOK jede Behandlungsmethode, die von den Fachärzten in den Krankenhäusern für die Heilung eines Kassenmitgliedes notwendig erachtet werde. Das gelte auch für klinische Nachtbehandlungen psychisch kranker Patienten, die tagsüber ihre Berufsarbeit ausüben, betonte Geschäftsführer Pirner.

Mehr Ärger mit den gesetzlichen Krankenkassen haben mitunter die praktischen Hausärzte. Deren Möglichkeiten zur Verschreibung von Medikamenten sind limitiert. Überschreiten sie ihr Kostenlimit, dann unterliegen sie einer Nachweispflicht, die sie zwingt, die Notwendigkeit der Rezeptur im einzelnen nachzuweisen. Beteuerte der AOK-Geschäftsführer: „Von uns wurde bisher noch kein Arzt regreßpflichtig gemacht.“

Auch der Sprecher der bayerischen Ärztekammer, Dr. Stordeur, München, räumte ein, wenn auch noch nicht das Optimum des wissenschaftlichen Fortschritts für den Patienten nutzbar gemacht wurde, so entspricht doch der gegenwärtige Zustand des Krankenversicherungssystems einem Maximum des Möglichen zwischen modernster Erkenntnis und der finanziellen Leistungskraft der Kassen.

1.000 Frauen weniger gestorben

Schwieriger sei jedoch das „weite Feld“ der Präventiv-Medizin, also das der gesundheitlichen Vorsorge-Maßnahmen. Im Zusammenwirken mit den Allgemeinen Ortskrankenkassen hätte zwar manches erreicht werden können, wenn auch der gegenwärtige Zustand nicht befriedigend sei. Dr. Stordeur nannte die Krebsvorsorgeuntersuchungen bei Frauen und die regelmäßigen ärztlichen Konsultationen Schwangerer vor der Entbindung, die als Kassenleistungen anerkannt seien.

Dadurch sei es möglich geworden, die Müttersterblichkeit im Jahr 1968 im Vergleich zu 1967 in Bayern um rund 1.000 Frauen zu senken, weitere 1.500 Babys hätten im gleichen Zeitraum gerettet werden können. Zu beachtlichen Heilungserfolgen hätten auch die Krebs-Vorsorgeuntersuchungen geführt.

Dr. Stordeur fordert, die Vorsorgeuntersuchungen auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen: vorrangig seien regelmäßige Krebsuntersuchungen der Männer, Diabetes-Vorsorgeuntersuchungen, denn rund 2,5 v. H. der Bevölkerung sei zuckerkrank, sowie die regelmäßige Untersuchung der Neugeborenen, Säuglinge und Kleinkinder.

Untersuchung mit einfachsten Mitteln

Doch, wer soll das bezahlen? Und wer soll die Vorsorgeuntersuchungen durchführen? Professor Dr. Hans Joachim Sewering, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, empfiehlt deshalb, die Vorsorgeuntersuchungen mit den „einfachsten Mitteln“ durchzuführen. „Wenn wir von vornherein Programme entwickeln, die sehr teuer sind, scheitert die Gesundheitsvorsorge an den Kosten, bevor sie überhaupt begonnen hat.“

AOK-Geschäftsführer Pirner sieht weitere Schwierigkeiten für die Einführung menschlicher „Generalinspektionen“:

• Die Anzahl geeigneter Untersuchungsstellen ist unzureichend.

• Zahlreiche Ärzte sind von ihrer medizinischen Vorbildung her für ein derart umfassendes Untersuchungsprogramm nicht geeignet und in der Regel instrumentell dafür auch nicht eingerichtet.

• Die berufsständische Vertretung der Ärzteschaft möchte möglichst allen Ärzten über das Untersuchungsprogramm zu großen Einnahmen verhelfen.

• Der Mangel an Ärzten in ländlichen Gebieten verbiete die Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen. Solange dort der Akut-Patient unterversorgt bleibt, ist eine Vorsorgeuntersuchung nicht aktuell.

• Krebsvorsorgeuntersuchungen beim Mann gehören auf keinen Fall in die Ambulanz.

Eine neue wirtschaftliche Ordnung im Verhältnis Arzt und Patient hält Geschäftsführer Pirner für absolut notwendig, „auch wenn die Ärzte sich noch so sehr dagegen sträuben“. Nur dadurch könnten die vorhandenen finanziellen Mittel wirkungsvoll eingesetzt werden. Pirner plädiert deshalb auch für die Einführung eines Gesundheitspasses, in den Krankheitsbefunde, Behandlungs- und Untersuchungsergebnisse eingetragen werden, um zu verhindern, daß die gleichen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden von verschiedenen Ärzten laufend wiederholt werden.

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