27. Januar 1971: Vergangenheit hat Hochkonjunktur
27.1.2021, 07:00 UhrGeschnitzte Heilige stehen neben barockem Gestühl, alten Kanapees, verzierten Kommoden und wurmstichigen Schränken, dazwischen und drumherum drängen sich (vornehmlich) Unternehmer und Akademiker. Kenner und Nichtkenner, verspielte Liebhaber und sammelnder Adel.
Aber diese gerngesehene Stammkundschaft muß sich den Platz im Historien-Kabinett mit einer immer größer werdenden Zahl von Vergangenheitsfans aus den unteren Einkommensschichten teilen. Es sind Sekretärinnen und Studenten-Ehepaare, Handwerker und junge Doppelverdiener, die bei dem Boom mit überlieferten Raritäten dabei sein wollen – und sei es auf Raten.
Kommoden für 30.000 DM
„Ich habe viele junge Paare, die sich für drei- bis viertausend Mark ein schmuckes Biedermeier-Zimmer eingerichtet heben“ entsinnt sich eine Händlerin aus der Bergstraße, die auch schon französische Kommoden „mit Inschrift“ für 30.000 DM an eine „betuchte Familie“ abgesetzt hat.
Gleichwohl sind die Zeiten härter geworden. Ein Routinier aus dem Dürer-Viertel, der 40 Jahre in der Branche ist, versteht die Welt nicht mehr: „Auf dem Land ist nichts mehr zu holen. Jetzt kommen die Bauernburschen sogar in die Stadt und kaufen das wieder zurück, was ihre Eltern früher für ein Butterbrot verscherbelt hatten. Das kommt alles durch das Fernsehen.“
Auf jeden Fall ist es heute chic, mit Zierrat unterbrochene Traditionen fortzusetzen oder die zurückliegenden Jahre im Zeichen aufgekrempelter Ärmel zu tilgen. Neuer Reichtum soll den Firnis des Althergebrachten erhalten, so wird die persönliche Note nach Kräften „aufgemöbelt“ – in Empire, Rokoko, Barock oder Biedermeier.
Geschäft bis ans Ende aller Tage
Aber die Zeiten, in denen noch ungeahnte Werte in der Ecke standen, sind längst vorbei. Dieser Knappheit kommt der Handel mit „restaurierten Stücken“ bereitwillig entgegen: Da werden Betten zersägt und drei oder vier daraus gemacht, Lehnstühle werden zu Kanapees gestreckt. Smarten Händlern soll sogar schon ein echter Sockel für den Bau einer Vitrine genügen. „Da muß man unheimlich aufpassen“, meint ein Nürnberger Händler, dem ebenso wie der ganzen Zunft der Gobelin-Skandal (NN vom 14. Januar) noch tief in den Knochen steckt.
Wie lange dauert die Konjunktur mit der Vergangenheit noch? Die Antworten sind selbstbewußt und optimistisch: der eine vertraut auf „das Geschichtsbewußtsein eines aufgeklärten Volkes“, der andere sieht „in der Antiquität immer eine gute Kapitalanlage“ und ein Dritter ist überzeugt: „Das Geschäft geht bis an das Ende aller Tage.“
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