"Wir müssen die Herzen treffen"

Fünf Jahre nach Hanau: Wie ein Nürnberger Autor sich für Konsequenzen und Aufklärung einsetzt

Lukas G. Schlapp

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19.02.2025, 05:00 Uhr
Mutlu Koçak hat gemeinsam mit Çetin Gültekin einen Spiegel-Bestseller über den Anschlag in Hanau geschrieben.

© Stefan Hippel Mutlu Koçak hat gemeinsam mit Çetin Gültekin einen Spiegel-Bestseller über den Anschlag in Hanau geschrieben.

In Hanau hat der 43-jährige deutsche Täter die Tatorte speziell ausgesucht, weil er dort "Ausländer" vermutet hatte: Am 19. Februar 2020 hat er dort eine Frau und acht Männer ermordet. Für viele Menschen mit Migrationsgeschichte bedeutete der Anschlag von Hanau eine Zäsur. Für sie gibt es ein "vor" und ein "nach Hanau".

An den ersten Tag nach Hanau kann sich Mutlu Koçak noch ganz genau erinnern. "Ich habe mich zur Arbeit geschleppt, für mich war das Top-Thema Nummer eins. Ich habe gemerkt, wie mir eine Träne runtergekullert ist, weil mich das so bedrückt hat. Für andere war es ein normaler Arbeitstag, an dem gelacht wurde", erzählt der Nürnberger.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich Mutlu Koçak intensiv mit dem Anschlag von Hanau beschäftigt. Angefangen hat alles mit einer Reise nach Hessen. Dort will der studierte Soziologe und Politikwissenschaftler kurze Zeit nach dem Attentat mit den Menschen sprechen.

Er erlebt Çetin Gültekins Wutrede auf dem Hanauer Markplatz. Dieser hatte am 19. Februar seinen Bruder Gökhan verloren. "Mich hat vor allem beeindruckt, wie die Menge auf ihn reagierte", erinnert sich Koçak. Er und Gültekin lernen sich schließlich kennen. Gültekin ist für Koçak jemand, der lauter wird, wenn andere verstummen, der sich traut, die Wahrheit auszusprechen. Gemeinsam schreiben sie ein Buch, das zum Spiegel-Bestseller wird.

Keine Konsequenzen

In "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" geht es um Çetin Gültekins Bruder Gökhan, ein junger Mann, der kurzzeitig auf die schiefe Bahn gerät, aber dann seinen Platz in der Gesellschaft findet. Danach entgeht er zweimal knapp dem Tod, er wird niedergestochen und später von einem Bus überrollt. Am 19. Februar 2020 wird er bei dem rechtsextremistischen Anschlag ermordet. In dem Buch geht es um sein viel zu kurzes Leben und um weiterhin offene Fragen rund um das Attentat: Warum haben die Angehörigen nichts von der Obduktion erfahren? Wieso hat die Polizei das Täterhaus erst nach fünf Stunden gestürmt? Koçak und Gültekin gehen mit diesem Buch seit einem Jahr auf Tour. Auch in Oxford und Cambridge waren sie schon.

Mutlu Koçak stellt fest, dass sich solche Anschläge wiederholen. Aus den Fehlern würde nichts gelernt werden. Dagegen wollen er und Gültekin vorgehen. Zudem seien politisch keine Konsequenzen aus dem Hanau-Attentat gezogen worden, eine Waffenrechtsverschärfung sei ausgeblieben, Verantwortliche in Behörden seien nicht belangt worden.

Bei den Anschlägen in Magdeburg, in Solingen oder in Aschaffenburg kamen die Täter nicht aus dem rechtsextremen Milieu. Da habe man gesehen, wie schnell gehandelt werden könne, wenn der Druck da ist, weil die Täter Migranten waren, sagt Koçak. Diese Reaktion habe in Hanau gefehlt.

"Wir sind mittendrin im Feuer"

Seinen Einsatz für Hanau führt er auf seine Erziehung zurück. Sein Vater sei immer für alle ansprechbar gewesen, habe überall geholfen. "Die Leute haben liebevoll gesagt, dass mein Vater der türkische Bürgermeister von Auerbach ist", erzählt Koçak, der in der kleinen Stadt in der Oberpfalz aufgewachsen ist. Doch dort hat er als Kind und Jugendlicher auch Erfahrungen mit Rassismus gemacht.

"Mir war klar, wir müssen die Herzen treffen", sagt Koçak. Das Leid der Angehörigen bei rassistischen, terroristischen Gewalttaten so zu transportieren, dass die Menschen nachvollziehen können, was es für die Betroffenen wirklich bedeutet, auch finanziell, familiär, beruflich.

Als Koçak entschieden hat, das Buch zu schreiben, war ihm bewusst, dass es für ihn persönliche Folgen haben könnte. Wie gravierend die Folgen ausgefallen sind, hat ihn dann doch überrascht. Trotzdem würde er es wieder tun, sagt er.

"Wir sind mittendrin im Feuer, dessen sind wir uns bewusst", sagt Koçak. "Das ist kein tolles Gefühl." Beleidigungen und Morddrohungen seien für ihn und Gültekin inzwischen Alltag. Das Risiko, das sie mit ihrem Engagement für Gerechtigkeit und Aufklärung eingehen, ist ihnen bewusst. Trotzdem sind sie auch im Frühjahr 2025 ständig unterwegs, geben Interviews und sprechen auf Veranstaltungen. Koçak macht das aktuell neben seinem eigentlichen Beruf im Personalmarketing einer großen Nürnberger Klinik.

Wenn Mutlu Koçak und Çetin Gültekin öffentlich aus ihrem Buch vorlesen, steht manchmal ein Polizeiauto vor der Tür. In diesem Fall wird die Lesung der beiden als eine Gefahrensituation eingestuft. Oft sind aber auch keine Polizistinnen und Polizisten vor Ort. In Gefahr sind die beiden trotzdem. "Würden wir – übertrieben gesagt – wissen, nächste Woche ist ein Auftritt in Hanau und wir werden dort sterben, wir würden es trotzdem machen. Aus Prinzip", sagt Mutlu Koçak.

#SayTheirNames (Sagt ihre Namen): Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Wo können Interessierte mehr über den Anschlag von Hanau und den Umgang damit erfahren? Der Podcast "190220 – Ein Jahr nach Hanau" beschäftigt sich ausgiebig mit dem Attentat und geht intensiv ins Gespräch mit den Angehörigen. Çetin Gültekin hatte beim Anschlag seinen Bruder Gökhan verloren, gemeinsam mit dem Nürnberger Autoren Mutlu Koçak hat er das Buch "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" geschrieben. Der Hanau-Überlebende Said Etris Hashemi hat seine Erlebnisse in dem Buch "Der Tag, an dem ich sterben sollte" festgehalten. Die sechsteilige Audio-Serie "Die Lücke von Hanau" des "SWR" beschäftigt sich mit der Radikalisierung und den Motiven des Täters. Außerdem informiert die Initiative 19. Februar Hanau auf ihrer Homepage www.19feb-hanau.org.