Landwirtschaft und Welternährung

"Weltacker": Entsteht bald ein riesiges Feld mitten in Nürnberg?

15.6.2021, 14:39 Uhr

© Volker Gehrmann, Zukunftsstiftung Landwirtschaft

Die Geschichte vom Spaghetti-Baum war ein sehr guter Aprilscherz. 1957 verkaufte der britische Fernsehsender BBC seinen Zuschauern Bilder von Nudelfäden erntenden Schweizerinnen. Der Filmbeitrag verwirrte das Publikum heillos. Aber birgt der Scherz nicht bis heute im Kern eine traurige Wahrheit?

Dass nämlich Menschen in hochentwickelten Ländern sich von ihren Nahrungsmitteln entfremdet haben? Und in den seitdem vergangenen 64 Jahren bestimmt nicht weniger? Man liest irgendwo, dass ein beträchtlicher Teil der australischen Kinder glaubt, dass Joghurt aus Pflanzen und Nudeln aus Tieren gewonnen würden - und ahnt, dass sich australische von deutschen Kindern wohl wenig unterscheiden.

Weizen, Wein und "Bio-Kraftstoffe"

Nächste Frage: Würde sich das Nudelwissen verbessern, wenn es mitten in Nürnberg eines Tages einen Acker gäbe, auf dem Weizen wächst? Zwei Frauen sagen: ja, klar. Katrin Schwanke und Barbara Schmitz wollen in Nürnberg einen "Weltacker" ansiedeln. Nicht nur Weizen soll darauf wachsen. Auch Kartoffeln und andere Feldfrüchte, Obstbäume, Viehfutter, Öl-, Energie- und Faserpflanzen. Wein, Tabak und Hopfen wahrscheinlich auch. Der Acker stünde kostenlos für jedermann offen, rund um die Uhr. "Der Weltacker", sagt Schwanke, "ist ein altersübergreifendes Bildungs- und Begegnungsangebot für die Stadt der Zukunft."

Öffentliches Gärtnern ist bei Städtern beliebt geworden, gegen den Klimawandel, aber auch als Trost bei Mietshausbeklemmung. Schul- und Hofgärtchen blühen; in Nürnberg entstanden Gemeinschaftsprojekte wie der "Nordgarten" im Kulturzentrum Z-Bau, der "Stadtgarten" in Eberhardshof oder der "Interkulturelle Garten" in Langwasser. Wer eine Baumscheibe gegen Hundekot und Vandalismus verteidigt, gilt nicht mehr als Spießer.

Sieht nach Ernteglück aus: Eine Frau zeigt Bohnen vom Berliner "Weltacker", der den Pro-Kopf-Verbrauch von Ackerland sichtbar macht.  

Sieht nach Ernteglück aus: Eine Frau zeigt Bohnen vom Berliner "Weltacker", der den Pro-Kopf-Verbrauch von Ackerland sichtbar macht.   © Zukunftsstiftung Landwirtschaft

Diese Ansätze seien "alle ganz toll", findet Katrin Schwanke. "Aber wir wollen wirklich in die Erde." Das ist auch symbolhaft zu verstehen: Den "Weltacker"-Anhängern geht es um Tieferes als Begrünung und Nachbarschaftspflege. Sie wollen Selbstkritik des reichen Nordens gegenüber dem globalen Süden erreichen: Wer ernährt auf der Welt eigentlich wen?


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In Berlin sitzt die Zukunftsstiftung Landwirtschaft, eine Initiative für Öko-Landbau der anthroposophisch geprägten GLS Treuhand. Sie begann 2014, in der Hauptstadt den ersten "Weltacker" einzurichten. 2000 Quadratmeter Land, so viel, wie überschlägig ein Erdenbewohner zur Verfügung hat, wenn man das weltweite Ackerland durch die Anzahl der Menschen teilt. Auf 2000 Quadratmetern, dem Drittel eines Fußballfelds, muss also im richtigen Verhältnis alles wachsen, was ein Mensch in einem Landwirtschaftsjahr an Ackergütern verbraucht. Auch für Textilien, Viehzucht und Kraftstoffe.

"Es ist genug für alle da"

Der "Weltacker" in Pankow erzählt dabei von einer Welt in Schieflage: einer ungleichen Verteilung von Land und Konsum. Denn während ein europäischer Industriestaatenbewohner durchschnittlich 1,3 Hektar Agrarfläche (Ackerland plus alles andere) verbraucht, belegen China oder Indien weniger als 0,4 Hektar pro Kopf, so eine Analyse über "Globale Landflächen und Biomasse" des Umweltbundesamts von 2013. Wobei solche Rechnungen für "Weltacker"-Gründer Benedikt Haerlin zu kurz greifen. "Es geht nicht darum, möglichst wenig zu verbrauchen. Es ist genug für alle da - aber der Kampfgriller hat eben einen anderen Verbrauch als die Veganerin, egal in welchem Erdteil", sagt er.

"Wir haben Lehrgeld bezahlt", erinnert sich Haerlin. Ganz so einfach sei das nämlich nicht, 45 Pflanzkulturen präsentabel zu halten. "Das schaffen Sie nicht in der Freizeit. Erst seit wir professionelle Gärtner anstellen, funktioniert der Acker so, wie wir dachten." Heute ist der Büroleiter der Zukunftsstiftung Landwirtschaft zufrieden mit dem Zustand des Stückchens Schul-Land im Botanischen Volkspark Blankenfelde-Pankow.

Mäuse und Spatzen

Der Berliner Senat finanziert dem "Weltacker" inzwischen drei Stellen, Besucher übernehmen Patenschaften pro Quadratmeter. Der Reis wächst und gedeiht, wird aber nicht reif (zu kalt in Pankow), der Weizen verflüchtigt sich (zu viele Spatzen und Mäuse). Bei den Tomaten gibt es auch Schwund – das Gelände steht ja Tag und Nacht offen. Und doch: "Tausende von Berliner Schülern wissen durch uns, dass Kartoffeln unter der Erde wachsen und wie Mais aussieht. Es ist ein wunderbarer Lernort."

Eindeutig spricht sich die Initiative für den Öko-Landbau aus. "Dass wir immer mehr ernten müssten, um die Welt zu ernähren, ist ein Mythos", erläutert Haerlin. "Es ist genug für alle da. Sie können gar nicht aufessen, was alles auf 2000 Quadratmetern wächst." Der "Weltacker"-Gründer stützt sich auf die Weltlandwirtschaftsorganisation FAO. Auch sie sieht die Ursache für 800 Millionen hungernde Menschen weltweit in Landraub, Preiskampf und Übernutzung durch die Agrarindustrie. Der globale Ernteertrag könnte, fairer verteilt, laut Weltagrarbericht zwölf Milliarden Menschen ernähren.

"Wirtschaften neu denken"

"Wir müssen Wirtschaften neu denken, weil wir im Rahmen der planetaren Grenzen nicht so weitermachen können wie bisher", sagt Katrin Schwanke, die den Berliner "Weltacker" noch nicht besucht hat, aber mit den Machern im Austausch steht. In Nürnberg arbeitet sie hauptamtlich beim Verein Bluepingu für das Projekt "SDGs go local". Dabei geht es darum, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ("SDGs") in der Kommune umzusetzen.

Der Großteil der 17 Ziele spiegelt sich im "Weltacker", allen voran Nummer 11 ("Nachhaltige Städte und Gemeinden") und 12 ("Nachhaltige Produktion") wider. Aber auch der Kampf gegen Armut, der Arten-, Klima- und Wasserschutz ließen sich auf dem Jedermanns-Land "gut visualisieren", schwärmt die Projektbetreuerin. Stichwort Fleischverzehr: Wer im Jahr zwei Schweine verspeisen will, müsste seine 2000 Quadratmeter komplett für Futterpflanzen hergeben. Und hätte noch keine Semmel und kein Bratöl für das Steak.


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Als Barbara Schmitz und ihr Mann von der Bluepingu-Idee hörten, waren sie Feuer und Flamme. Mit ihrer Stiftung "Innovation und Zukunft" suchten die Nürnberger nach einem Naturprojekt, das sie finanzieren wollen. "Das wäre Nachhaltigkeit zum Anfassen." Die Stiftung sagt zu, Einrichtung und Unterhalt des "Weltackers" zu tragen.

Der "Weltacker", hier in Berlin, ist ein Lern- und Begegnungsort zu den Themen Welternährung, Nachhaltigkeit und ökologische Landwirtschaft. 

Der "Weltacker", hier in Berlin, ist ein Lern- und Begegnungsort zu den Themen Welternährung, Nachhaltigkeit und ökologische Landwirtschaft.  © Volker Gehrmann, Zukunftsstiftung Landwirtschaft

Neben angestellten Mitarbeitern für den Landbau und die Bildungsarbeit könnten Ehrenamtliche helfen. Unternehmen könnten einsteigen, es könnte Pflanz-, Ernte- und Kochaktionen geben. "Das Seniorenkränzchen wäre genauso willlkommen wie Jugendliche aller Hintergründe" - so vieles sei denkbar. Das Interesse sei schon jetzt riesig, sagt Schmitz. "Wir werden überrannt."

Nachfolger der Botanischen Lehrgärten

Asphalt zu Acker, grüne Spinnerei? Zu ihrer eigenen Überraschung sind Bluepingu und die Stiftung bei der Flächensuche schon ziemlich weit gekommen. Die Stadtverwaltung hat ihren Wunsch, ein Grundstück aus städtischem Bestand dafür herzugeben, erhört. Gerade prüft sie vier Flächen genauer. Sie sollen mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein und liegen alle noch im Einzugsgebiet der Ringstraßen in der Süd-, West- und Nordstadt. Bis zur Sommerpause erhofft sich Siegfried Dengler, Leiter des Stadtplanungsamts, Klärung. Trotz einer Palette offener Fragen - Rechtsverhältnisse, Bodenverhältnisse und immer die Parkplatzverlustangst - ist er "verhalten optimistisch".

Auch Ingrid Burgstaller, Professorin für Stadtplanung an der Technischen Hochschule Nürnberg, hat sich sofort in das Projekt verliebt. "Da steckt unendlich viel Luft und Musik drin." Der "Weltacker" wäre für die Architektin der zeitgemäße Nachfahre der Nürnberger Barockgärten und der Botanischen Gärten aus dem Entdeckerzeitalter. Also bietet Burgstaller in diesem Semester ein Lehrforschungsprojekt an: Wie und wo ließe sich so ein Acker in Nürnberg verträglich urbanisieren? Die anderen bestehenden "Weltäcker" liegen oft auf dem Land - aber wie wäre es mal an Hauptverkehrsstraßen?

Master-Studierende der TH prüfen Flächen

Das Thema traf einen Nerv, "der Kurs war in eineinhalb Minuten ausgebucht - Rekord". Mit Hingabe stellen 18 Master-Studierende seitdem donnerstags per Videokonferenz Skizzen vor, wie und wo sie Kräuter, Regensammler und Weizen anordnen würden. Im Sommer wollen sie der Stadtverwaltung eine Empfehlung aussprechen.

Nach dem Berliner Vorbild haben verschiedene Sympathisanten die "Weltacker"-Idee kopiert. In Überlingen, Osnabrück und im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern, in der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg und Kenia laufen ähnliche Projekte, bald will Landshut öffnen. Manche Orte gründen Vereine dafür, teils nutzen Landwirte das Feld zur Selbstvermarktung. Nürnberg, so optimistisch sind die Erfinder in Berlin, ist als kommender Standort schon auf ihrer Internetseite aufgeführt.


Wer verbraucht wie viel Land?

- Wie viel Ackerfläche verbraucht der Mensch? Laut der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO stehen rechnerisch jedem Erdenbewohner 2000 Quadratmeter frei (ohne Weide- und Forstflächen). Abhängig von Agrarkulturen und Bevölkerungsdichte fällt die Pro-Kopf-Fläche in einzelnen Ländern extrem unterschiedlich aus. Der Pro-Kopf-Flächenabdruck reicht laut Umweltbundesamt von 1100 Quadratmetern in China über 3000 in der EU bis zu mehr als 7000 Quadratmetern in Russland und Australien.

- Der persönliche Pro-Kopf-Verbrauch verzerrt sich in den Weltregionen durch Export und Import. Je mehr tierische Lebensmittel und Nichtnahrungsmittel (Beispiel: "Biokraftstoffe") konsumiert werden, desto mehr Fläche braucht man. Lebensmittelverschwendung, Produktivitätsunterschiede und Brachland verschieben die Rechnung weiter.

- Wie viel Land verbraucht mein Essen? Mit dem "Flächenrechner" auf der Webseite mym2.de ("Mein Quadratmeter") gibt das "Weltacker"-Projekt zumindest Anhaltspunkte. Eine Portion Nudelsalat mediterran belegt demnach 1,3 Quadratmeter, ein Drittel der Fläche, die dem Durchschnitts-Erdenbewohner pro Tag zustünde. Currywurst mit Pommes: 2,09 Quadratmeter, fast die Hälfte der Tagesfläche.

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