Die Bahn und der Bannwald
Vergessener Protest: Schon vor 48 Jahren wehrte sich Franken gegen ein Bahn-Projekt
6.11.2021, 06:45 UhrDie Bürgerinitiative in Wendelstein hat ihr Ziel erreicht. Der Bannwald bleibt für die Bahn ein Tabu. Wie bitte? Nun, aktuell ist in Sachen ICE-Instandhaltungswerk zwar noch alles in der Schwebe, doch vor knapp 50 Jahren haben Bürgerinitiativen schon einmal dazu beigetragen, dass die Bahn ihre Pläne, eine Neubautrasse von Roth nach Feucht mit einem Rangierbahnhof im Reichswald bei Wendelstein zu bauen, wieder in der viel zitierten Schublade verschwinden lassen musste.
Nicht nur in Wendelstein hatte sich damals ein von der SPD-Fraktion initiiertes Bürgerkomitee gebildet. Auch in den Gemeinden Röthenbach/St.W., Großschwarzenlohe, Leerstetten und Schwand formierte sich der Widerstand.
Aufgelöst hat sich die Wendelsteiner Vereinigung erst 35 Jahre später und zwar nach der Inbetriebnahme der S-Bahn Roth-Nürnberg (2001) und der ICE-Trasse Nürnberg-Ingolstadt (2006). Die Gefahr, dass der Bannwald zum Bahnwald werden könnte, schien damals endgültig gebannt. In den 1980er Jahren hatte das Komitee seine Arbeit fortgesetzt, um zur Stelle zu sein, wenn die Bahn ihre Zusagen nicht einhalten sollte. Für eventuell notwendige neue Aktivitäten wollte man sich einen finanziellen Rückhalt sichern.
Als sich im Juli 2007 das 28 Jahre lang vom Röthenbacher Alois Schäfer geführte Komitee dann doch auflöste, wurden die angesparten Rücklagen in Höhe von immerhin 30.000 Euro satzungsgemäß an die Marktgemeinde Wendelstein zum „Zwecke des Landschafts- und Naturschutzes“ übergeben.
Wichtige Sensibilisierungsarbeit
Der damalige Wendelsteiner Bürgermeister Wolfgang Kelsch bedankte sich für das Engagement des Komitees, das im Januar 1973 zwar mit einer spektakulären Aktion bayernweit für Aufsehen sorgte, in erster Linie aber wertvolle Hintergrundarbeiten leistete. Behörden und Politiker mussten sensibilisiert und Gutachten erstellt werden.
Angefangen hatte alles, als die Pläne der Bahn für den Bau eines Rangierbahnhofs inmitten von Wald und Natur publik wurden. Die Protestwelle erreichte ihren ersten Höhepunkt, als sich in den Gemeinden Röthenbach/St. W., Wendelstein, Großschwarzenlohe, Leerstetten und Schwand Bürgerkomitees gründeten und eine gemeinsame Resolution verfassten. Diese sollte am 24. Januar 1973 öffentlichkeitswirksam der Regierung von Mittelfranken überreicht werden. Ein 300 (!) Fahrzeuge langer Autokorso aus dem Landkreis Roth fuhr vor der Residenz in Ansbach vor, einem Museumsschloss, das auch heute noch die Regierung von Mittelfranken beherbergt.
Vor dem Regierungssitz protestierten die vielen Menschen aus Wendelstein und Umgebung lautstark gegen einen Rangierbahnhof in einem beliebten Naherholungsgebiet. Die Demonstranten hielten zahlreiche Transparente und Plakate hoch und skandierten dabei Parolen wie „Rettet den Reichswald“ oder „Der Bannwald ist kein Bahnwald“. Auch die Jung-Sozialdemokraten aus Wendelstein, darunter der 17-jährige Abiturient Herbert Eckstein, heute dienstältester Landrat in Bayern, waren mit von der Partie.
Für die Initiatoren der Komitees und ihre Mitglieder war es schlicht Wahnsinn, wenn mitten im Naherholungsgebiet beziehungsweise inmitten eines der bedeutendsten Trinkwasserversorgungsgebiete Frankens sowie in einem Siedlungsgebiet für mehr als 100.000 Menschen ein Rangierbahnhof entstehen würde.
Bedenken übertrieben?
Doch die Komitees aus dem nördlichen Landkreis waren in Ansbach nicht die einzigen Demonstranten, die Stimmung machten. Zwei Stunden vor dem Auftritt der Rangierbahnhof-Gegner hatten sich bereits rund 200 Eisenbahner als Befürworter einer Verlegung des Rangierbahnhofs in den Reichswald südlich von Nürnberg zu Wort gemeldet.
In einem Brief, den sie dem damaligen Regierungspräsidenten Burkhardt persönlich überreichten, bezeichneten die von der Gewerkschaft der Eisenbahner unterstützten Mitarbeiter der Bahn die Bedenken des Bürgerkomitees als übertrieben. Sie argumentierten, dass mindestens 3000 Arbeitsplätze in Gefahr seien, wenn die Weichen für den geplanten Rangierbahnhof-Neubau nicht rechtzeitig gestellt werden.
Die Bürgerkomitees dagegen erwarteten von der mittelfränkischen Regierung ein klares „Nein“ zum Rangierbahnhof. Einer der Kernsätze ihrer Resolution lautete, dass auch der Neubau einer Fernbahntrasse von Roth nach Feucht strikt abgelehnt werde, solange von der Bundesbahn kein volkswirtschaftlich fundierter Nachweis über deren Notwendigkeit erbracht werden kann“.
Außerdem hieß es in der Resolution, dass die bisher bekannt gewordenen negativen Stellungnahmen einzelner Behörden eine Fortführung des Raumordnungsverfahrens nicht mehr gerechtfertigt erscheinen lassen. Unterzeichnet war das Schreiben von den Vorsitzenden der Bürgerkomitees in Röthenbach St. W. (Krehnke), Wendelstein (Muhlert), Großschwarzenlohe (Vogler), Leerstetten (Heep) und Schwand (Sachsenweger).
50 stürmten den Regierungssitz
Für Verärgerung unter den Wendelsteinern sorgte in Ansbach der Umstand, dass weder der erkrankte Regierungspräsident Burkhardt, der vor seiner Wohnung nur kurz die Eisenbahner empfangen hatte, noch ein anderer Regierungsbeamter zu ihnen sprach. Darüber maßlos enttäuscht, wollten die Demonstranten den Dienstsitz der Regierung stürmen. „Etwa 50 von ihnen war es tatsächlich gelungen, in das Gebäude einzudringen“, hieß es dazu in den Nürnberger Nachrichten. Einen Kommentar zu ihrer Resolution erhielten die Demonstranten dennoch nicht.
Immerhin: Im Landtag kam das Thema „Rangierbahnhof“ auf Anregung mittelfränkischer Abgeordneter zur Sprache. So wurde in München bekannt, dass es bereits Vorgespräche zwischen der Bahn und der Rhein-Main-Donau-AG darüber gegeben habe, den Erdaushub beim Kanalbau zum Niveau-Ausgleich für das Rangierbahnhofsprojekt zu verwenden. Die Zusatzfrage des Schwabacher Abgeordneten Franz Kick, ob es stimmt, dass das bestehende Rangierbahnhof-Gelände später von der Bundesbahn mit 155 Millionen Mark Gewinn verkauft werde, ließ das Landtagspräsidium nicht zu.
Auch das Trinkwasser war Thema
In der Rother Landkreispolitik schlug das Bahnprojekt ebenfalls Wellen. Der erste Landrat des 1972 aus der Taufe gehobenen Landkreises Roth, Dr. Ignaz Greiner, berichtete den Kreistagsmitgliedern von einer Besprechung aller Fachdienststellen bei der mittelfränkischen Regierung, in der vor allem auf Bedenken hinsichtlich des Trinkwasserschutzes sowie der Trinkwassersituation für den gesamten Nürnberger Raum hingewiesen wurde.
Gleichbedeutend mit dem Schutz des Trinkwassers vor einer Verseuchung müsse an eine laufende Erneuerung des Grundwassers gedacht werden. „Diese würde sich durch notwendig werdenden Waldeinschlag verringern“, hatte die entsprechende Fachdienststelle herausgestellt. Letztlich sei man im Rahmen von Behördenbesprechungen überein gekommen, den geplanten Rangierbahnhof abzulehnen.
Was die Planung der Neubaustrecke Roth-Feucht betraf, die im Landkreis Roth die Gemeinden Pfaffenhofen, Schwand und Wendelstein tangieren würde, vertrat Landrat Greiner die Meinung, die Trasse in einer Weise zu führen, die Siedlungsgebiete möglichst ungeschoren bleiben lässt. Keinesfalls sollte man das Projekt grundsätzlich ablehnen, sondern zu Konzessionen bereit sein, führte Greiner aus.
In der Diskussion machte Kreisrat Günter Fichtner deutlich, dass Roth großes Interesse an einem Schnellbahnanschluss habe. Der Preis an die Natur und die betroffenen Menschen müsse aber so gering wie möglich gehalten werden, ergänzte Kreisrat Georg Reiß. Kreisrat Peter Keidel wiederum stellte heraus, dass die Bundesbahn keinerlei volkswirtschaftliche Argumente für das Projekt vorgelegt habe. Der Kreistag dürfe die betriebswirtschaftlichen Gründe der Bahn nicht einfach schlucken. Letztlich empfahl der Kreisausschuss dem Kreistag, das Projekt der Bahn abzulehnen. So kam es dann auch.
Wieder ein Großprojekt der Bahn
Knapp 50 Jahre später diskutiert der Kreistag nun wieder über ein Großprojekt der Bahn mitten in der Natur. Diesmal geht es um ein geplantes ICE-Instandsetzungswerk. Dass aus Umweltschutzgründen möglichst viel Individualverkehr von der Straße auf die Schiene verlagert und dafür die Voraussetzungen geschaffen werden müssen, leuchtet ein. Dass es in diesem Zusammenhang nicht sein kann, ein heiles Stück Natur und damit ein intaktes Lebensumfeld vieler Menschen zu beeinträchtigen, ebenfalls.