Streit um Kindeswohl: Siebenjährige soll trotz Schlägen bei Vater bleiben
22.1.2021, 05:55 Uhr
"Ich habe unser Kind geschlagen und zwar zwei Mal... sie weinte unaufhörlich, so dass ich nicht einschlafen konnte."
"Ich kann nicht versprechen, dass ich unser Kind nicht mehr schlagen werde. Wenn Kinder noch klein sind, sind sie manchmal unvernünftig. Dann müssen sie geschlagen werden."
"Solange ein Kind noch nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden kann und noch jung ist, kriegt es eben ab und zu eine Tracht Prügel. Das ist doch keine große Sache."
Das sind Mails, die der Vater der kleinen Lina (Name geändert) an seine damalige Frau geschrieben hat. Der Vater verfasste sie offenbar mit reinem Gewissen. Das 2013 geborene Kind war in dem Zeitraum, aus dem die Mitteilungen stammen, zwischen zwei Monaten und drei Jahren alt.
"Keine Hinweise" auf Gewalt
Trotz solcher Besorgnis erregender Bekenntnisse haben Gutachter und Justiz entschieden, dass das Mädchen beim Vater besser aufgehoben ist. Es gebe "keine Hinweise" auf Brutalitäten des Vaters, heißt es wiederholt in einer Reihe von Verfahren, die die verzweifelte Mutter aus Sorge um ihre Tochter anstrengte und die bis in jüngste Zeit laufen.
Das Drama um die Leiden der kleinen Lina spielt sich im Nürnberger Land ab. Hier lebten die Eltern, zwei hoch gebildete chinesische Staatsbürger. Die Mails des Vaters sind Teil beglaubigter Übersetzungen eines schriftlichen Austausches zwischen den Eltern. Sie belegen zudem schlimmste verbale Ausfälle des heute 42-jährigen Vaters gegen seine um sechs Jahre jüngere Frau.
Gut drei Jahre nach Linas Geburt ergriff die Frau die Flucht vor ihrem Peiniger und seinen Übergriffen auf sie und das gemeinsame Kind. Sie wandte sich an die "frauenBeratung nürnberg für gewaltbetroffene Frauen & Mädchen". Nach mehreren Gesprächen dort kam sie mit ihrem Kind vorübergehend in einem Frauenhaus in Oberbayern unter. Der notwendig gewordene Umzug sei mit dem Jugendamt abgesprochen worden, versichert die Beratungsstelle. Später habe die Behörde davon nichts mehr wissen wollen.
Vater blieb in Mittelfranken
Bis heute lebt die Mutter im Süden des Freistaats. Der Vater blieb in Mittelfranken. Von hier aus setzte er alle Hebel in Bewegung, wieder dauerhaft Zugriff auf Lina zu bekommen. Am Hersbrucker Amtsgericht strengte er dazu ein Verfahren an.
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Die Justiz beauftragte einen als erfahren geltenden Erlanger Mediziner, ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten zu erstellen. Der Inhalt der Mails, übertragen aus dem Chinesischen von einem gerichtlich bestellten Übersetzer, war der Justiz da schon bekannt.
Das belegt ein Beschluss des Hersbrucker Amtsgerichts, mit dem es einen Antrag des Vaters auf Abänderung der Umgangsregeln für die kleine Lina zunächst zurückgewiesen hatte. Die Begründung: Der Vater habe schließlich eingeräumt, das Kind geschlagen zu haben und dies als Form der Erziehung anzusehen, wie es die übersetzten schriftlichen Äußerungen belegten.
Zu einer aus Sicht der Mutter bis heute verstörenden Wende kam es ein halbes Jahre später, als das Gutachten aus Erlangen auf dem Tisch lag. Dessen Inhalt stößt bei ihr und ihren Anwälten auf ebenso tiefes Unverständnis wie der Umstand, dass es für die Justiz seither wie in Stein gemeißelt scheint.
Erziehungseignung "eingeschränkt"
Der Experte erwähnt die aussagekräftigen Mailnachrichten, von denen er wusste, in seiner Expertise mit keinem einzigen Wort. Nicht nur das. Er kam zu der Erkenntnis, die Erziehungseignung der Mutter sei – ganz anders als die des Vaters – massiv eingeschränkt. Ihr fehle es zum Schaden ihrer Tochter an Einfühlungsvermögen.
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Die Justiz schloss sich dieser Haltung des Gutachters im weiteren Verlauf des erbitterten Streits um Linas Wohl stets an. Die Expertise aus Erlangen sei "vollumfänglich verwertbar". Schließlich sei der Sachverständige, so hält etwa das Hersbrucker Gericht fest, "aus einer Vielzahl anderer Verfahren als wohl ausgewogen urteilend, zuverlässig und neutral" bekannt. Man kennt sich gut.
Tochter mit Polizeibegleitung aus dem Bett geholt
Nachdem das rund 15.000 Euro teure Gutachten eingegangen war, übertrug das Amtsgericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Lina auf den Vater. Der Beschluss erging am 18. Oktober 2017. Noch am Abend dieses Tages kreuzte der Mann mit Polizisten vor der Wohnung der Mutter in Oberbayern auf und holte seine Tochter aus ihrem Bett zu sich in sein Haus im Nürnberger Land.
Seither hält das strapaziöse Tauziehen um Lina an. Auch die 36-jährige Mutter setzte in ihrem verzweifelten Bemühen, etwas für ihr Kind zu tun, alle juristischen Hebel in Bewegung. Einer davon ist eine Strafanzeige gegen den Erlanger Gutachter, unter anderem wegen uneidlicher Falschaussage. Der hatte laut Gerichtsprotokoll nämlich beteuert, die fraglichen E-Mails sehr wohl bei seiner Begutachtung mit einbezogen zu haben.
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Beide Dolmetscher, die mit dabei gewesen seien, hätten ihm aber bestätigt, dass es "begrifflich eine Unschärfe" gebe. Man habe ihm gesagt, das fragliche chinesische Wort in den Mails sei nicht als schlagen im Sinne von Prügel zu verstehen, sondern eher als "Klapsen" oder "Klopfen".
Der Anwalt der Mutter legte allerdings Erklärungen der Dolmetscher vor, in der sie versichern, eine solche Relativierung gegenüber dem Erlanger Mediziner nie vorgenommen zu haben. Bei dem verwendeten chinesischen Begriff für schlagen habe es keinen Interpretationsspielraum gegeben, beteuerten diese. Wäre das anders, hätten sie das als gerichtlich beauftragte Übersetzer anmerken müssen.
Über die Motivation für die "Falschaussage" des Gutachters, wie die Anwälte der Mutter das nennen, könne man nur rätseln. Gegenüber unserer Zeitung blieb ein Anfrage bei dem Mediziner mit Hinweis auf das nichtöffentliche Verfahren unbeantwortet. Und das Gericht stützte seine Version trotz des offenkundigen Widerspruchs.
Einer der Anwälte der Mutter hat den Erlanger Gutachter außerdem wegen Urkundenfälschung angezeigt. Um zu belegen, dass mit dem Kindergarten Linas "themenzentrierte Gespräche" stattgefunden hätten, wie der Arzt selbst versicherte, habe der Mediziner eine gefälschte Schweigepflichtentbindung vorgelegt. Die Justiz sah allerdings keine Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuklären.
Die Nürnberger Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen zu diesem Vorwurf eingestellt. Der Mediziner habe, so heißt es in der Entscheidung, "ggf. objektiv unzutreffende" Angaben gemacht. Es könne aber "nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, dass er hier bewusst unrichtige Angaben machte oder sich lediglich... irrte". Das Misstrauen der Anzeigeerstatterin sei "durchaus nachvollziehbar", die Einlassungen des Mediziners, es sei bei der Schweigepflichtentbindung ein "Schreibversehen" passiert, ließe sich allerdings nicht widerlegen.
Neues Gutachten in Auftrag gegeben
Vor ein paar Monaten landete der Fall nach einer Beschwerde der Mutter beim Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg. Das hat ein neues Sachverständigengutachten bei einem weiteren Experten in Auftrag gegeben. Der wurde dabei ausdrücklich auf die Emails hingewiesen, in denen unumwunden von der Gewalt des Vaters gegen seine Tochter die Rede ist.
Laut Gerichtsprotokoll gibt der neue Gutachter allerdings seinen Eindruck wieder, "dass sich die Diskussion zu stark um den Gesichtspunkt des ,Schlagens‘ dreht". Auch er sehe Anhaltspunkte für eine "Bindungsintoleranz der Mutter" - das stand schon im ersten Gutachten.
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Solche "einzelnen Aspekte" wie die Gewaltvorwürfe seien seiner Ansicht nach nicht maßgeblich. Entscheidend sei, dass Lina "sich seit vier Jahren in einer permanenten Anspannung befindet und zu befürchten ist, dass ihr dies auf längere Sicht schaden wird". Sie brauche zunächst "systemische Ruhe".
Derzeit wäre ein Wechsel vom Vater zur Mutter deshalb nicht zu befürworten. Als "begrenzt aussagekräftig" stufte der neue Gutachter dabei eine Befragung Linas durch eine Schulpsychologin im Nürnberger Land ein.
Die Schule sorgt sich: Diese Expertin hat erst vor gut einem halben Jahr eine Stellungnahme abgegeben. Die Klassenlehrerin von Lina – das Kind besucht die erste Klasse einer staatlichen Grundschule – sorge sich um die Schülerin, heißt es da. Der Vater übe viel Druck bei den Hausaufgaben aus.
Und ihr, der Schulpsychologin, gegenüber habe Lina "mehrfach geäußert, von ihrem Vater bei den Hausaufgaben geschlagen zu werden". Während Lina die Schulsituation und die Situation zu Hause zeichnete, hat die Siebenjährige demnach Sätze fallen lassen wie: "Mein Papa schlägt mich auf den Po, mit der Hand, wenn die Hausi nicht klappt. Ich weine dann und bin allein." – "Ich find gut, wenn Papa arbeiten muss, dann bin ich mit Opa, der schlägt mich nicht." – "Ich wäre lieber bei Mama, aber das darf ich nicht sagen, weil ich Angst vor Papa habe, dass er noch mehr wütend wird."
"Sie schreien und schlagen sich"
Ein sogenannter Satzergänzungstest der Psychologin mit Lina zur Erfassung emotionaler Probleme bei Kindern brachte ebenfalls ein klares Ergebnis. "Ich finde es scheußlich..., dass Papa mit Oma/Opa streitet. Sie schreien und schlagen sich." - "Ganz im Geheimen... sage ich nicht, verrate ich nicht, dass Papa mich schlägt." Auch diese Unterlagen gingen an das Hersbrucker Amtsgericht. Wirkung hatte das keine.
Die vorerst letzte Station: Im vergangenen November hat dann der OLG-Senat für Familiensachen als vorerst letzte Station des elterlichen Kampfes um Lina entschieden. Die Richter ließen durchaus anklingen, dass es in der Vergangenheit wohl zu väterlichen Gewalt gekommen sein könnte. Es sah aber keine Anzeichen, dass sich das in Zukunft wiederholt. Am Ende stand eine Vereinbarung mit den Beteiligten.
Der Vater stimmt darin zu, dass sich das Jugendamt Nürnberger Land bei Schule und Hort Informationen zum Befinden und zu den Lebensumständen Linas einholt und erklärt sich mit unangemeldeten Besuchen einverstanden. Beide Eltern verpflichten sich, die beim Jugendamt beantragte Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) beim Vater für mindestens sechs Monate in Anspruch zu nehmen. Letzter Punkt: Die Eltern sind sich einig, dass das Kind den Aufenthalt beim Vater behält.
Gefühl der Ohnmacht
Zu diesem Zugeständnis sah sich die Mutter nach einem unmissverständlichen Hinweis der OLG-Richter, dass ihre Beschwerde keinen Erfolg haben werde, am Ende gezwungen. Seither plagt sie ein Gefühl der Ohnmacht. Wenn ihre Tochter ein paar Jahre älter ist, könne sie sich vielleicht selbst über ihre Gewalterfahrung so äußern, dass man ihr glaubt. Das ist vorerst die letzte Hoffnung der 36-Jährigen.
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