Endlich auch auf Deutsch erhältlich
Faszinierende Verwirrung: Dieser Roman wird Sie nicht mehr loslassen
17.03.2025, 10:44 Uhr
Es gibt Bücher, die fesseln einen beim Lesen. Meist sind das eher längere Romane oder Thriller, die gerne über die 400 Seiten-Grenze hinausgehen. Natsuko Imamura hat das auf nur 128 Seiten geschafft. Denn dieser Roman wird Sie auch nach dem Lesen noch festhalten.
"Die Frau im lila Rock": Worum geht es?
Wir sehen die Welt durch die Augen der Frau in der gelben Strickjacke. Sie beschreibt eine lokale Berühmtheit, nämlich die Frau im lila Rock. Sie bewundert sie und möchte mit ihr befreundet sein, ist aber sozial eher unfähig. Außerdem weiß sie erstaunlich viel über die Frau im lila Rock, spricht viel von ihren detaillierten Notizen, die sie sich über das Leben der Frau im lila Rock gemacht hat.
Um sich mit ihr bekannt zu machen, müssen sie beide Kolleginnen werden. Zumindest in der Vorstellung der Frau in der gelben Strickjacke. Gut, dass die Frau im lila Rock gerade mal wieder auf Arbeitssuche ist. Die Frau in der gelben Strickjacke spielt ihr Stellenanzeigen zu, bis sich die Frau im lila Rock endlich als Zimmermädchen bewirbt, im gleichen Hotel, in dem auch die Frau in der gelben Strickjacke arbeitet.
Doch auch als sie Kolleginnen werden, schafft es die Frau in der gelben Strickjacke nach wie vor nicht, direkten Kontakt aufzunehmen. Sie beobachtet weiter nur. Die Frau im lila Rock steigt zunächst im Ansehen der dienstälteren Chiefs auf - sie darf schon bald ohne Aufsicht arbeiten, was für eine so neue Angestellte ungewöhnlich ist. Normalerweise dauert es Wochen oder sogar Monate, bis man die Erlaubnis dazu bekommt. Die Frau im lila Rock hat es in nur fünf Tagen geschafft.
Doch dann kippt die Stimmung. Ihre Affäre mit dem Facility-Manager, der der Vorgesetzte der Zimmermädchen ist, hilft ihr dabei nicht. Dieser Wechsel in der Stimmung kommt für uns durchaus überraschend und findet im Grunde in nur einem Gespräch statt, in dem verdeutlicht wird, welche Dynamik der Klatsch und Tratsch unter den dienstälteren Zimmermädchen hat.
"Aus Hino-San (die Frau im lila Rock, Anm. Red.) ist eine richtige Schönheit geworden", sagte jemand. "Ob sie sich unters Messer gelegt hat?" Das ist als Kompliment zu verstehen, glaube ich. "Ach was, das ist Make-up", sagt eine andere. "Dann kann sie sich aber sehr gut schminken."
"Ja, das kann sie."
"Schnell ist sie auch."
"Ja, das ist sie."
"Selbst die eiligen Zimmer könne man ihr überlassen, sagen die Chiefs."
"Ja, weil sie wirklich schnell ist."
"Manchmal aber auch ein bisschen zu schnell."
"Manchmal schon, das stimmt."
"Regelrecht schlampig, ohne ihr zu nahe treten zu wollen."
"Da sagst du was."
"Das muss den Chiefs doch auch schon aufgefallen sein…?"
"Ist es auch, aber auf ihre ‚Hino-chan‘ lassen sie nichts kommen."
Mehr soll an dieser Stelle nicht über die Handlung verraten sein.
"Die Frau im lila Rock": Irgendwo zwischen Satire und psychologischem Drama
"Natsuko Imamura besitzt eine einzigartige Stimme, schonungslos und schön." - Hiromi Kawakami, Autorin

Ein faszinierender Aspekt dieses Romans ist es, dass er auf nur 128 Seiten verschiedene Lesarten, beziehungsweise Dimensionen hat. Teilweise handelt es sich dabei um eine Satire über die japanische Arbeitswelt, in der die prekären Lebensverhältnisse gering Verdienender in Japan angeprangert werden. Unsere Ich-Erzählerin kann sich die Miete nicht mehr leisten, weil sie einen Schaden, den sie bei einem Unfall in einem Geschäft verursacht hat, abbezahlen muss. Hinzukommen schlechte Wohnverhältnisse, wie beispielsweise ein rostiges Treppengeländer, welches im Laufe der Geschichte noch eine wichtige Rolle zu spielen hat.
Daneben verdeutlicht Imamura auch die Arbeitsbedingungen. Gerade in eher schlecht bezahlten Berufen ist es für Neueinsteiger schwer, Fuß zu fassen, da es eine strikte Hierarchie zwischen den Dienstälteren und den Neuankömmlingen gibt. Nicht selten kommt es zu Machtmissbrauch.
Faszinierend ist vor allem aber auch das Verhältnis zwischen der Frau im lila Rock und der Frau in der gelben Strickjacke. Dieses Verhältnis ist es, das einen auch nach dem Lesen des Romans nicht loslässt. Denn es bleiben verschiedene Theorien möglich. Alle drei Theorien bringen sowohl Argumente dafür als auch dagegen mit sich.
- Theorien 1: Die Frau in der gelben Strickjacke stalkt die Frau im lila Rock.
Das ist die einfachste Erklärung. Detailliert beschreibt unsere Ich-Erzählerin, wie sie die Frau im lila Rock beobachtet, verfolgt und sich Notizen macht. Sie hat dabei schon vieles herausgefunden über die Frau, die sie so sehr bewundert. Doch tatsächlich weiß sie teilweise etwas zu viel, Details, die sie auch als Stalkerin nur schwer wissen kann.
Außerdem ist es erstaunlich, dass die Frau im lila Rock die Frau in der gelben Strickjacke überhaupt nicht zu bemerken scheint. Das scheint schon sehr ungewöhnlich, schließlich leben sie in der gleichen Gegend, nehmen regelmäßig den gleichen Bus und verbringen ihre Freizeit an den gleichen Orten. Nicht einmal, nachdem sie Kolleginnen sind, fällt der Frau im lila Rock auf, dass sie von der Frau in der gelben Strickjacke beobachtet wird.
- Theorien 2: Die Frau in der gelben Strickjacke und die Frau im lila Rock sind verschiedene Persönlichkeiten einer einzelnen Person.
Für die Theorie der dissoziativen Identitätsstörung spricht, dass die Frau in der gelben Strickjacke so quasi bei allem dabei sein kann, was die Frau im lila Rock erlebt. Als Schutzmechanismus (womöglich vor den prekären Lebensbedingungen?) hat sich die Persönlichkeit dieser Frau gespalten. Betrachten wir, was wir über die Frau in der gelben Strickjacke wissen, erhält diese Möglichkeit weitere Unterstützung. Die Frau in der gelben Strickjacke ist im Grunde alleine nicht lebensfähig. Sie ist völlig unfähig, soziale Kontakte zu knüpfen. Außerdem hat sie sich einfach so dazu entschlossen, aus Geldmangel ihre Miete nicht mehr zu bezahlen. Dieser Mangel entstand durch den bereits erwähnten Schaden, den sie abbezahlen muss. Dieser ist allerdings zu Beginn der Erzählung bereits beglichen, dennoch wird sie aus ihrer Wohnung geworfen.
Auf der anderen Seite ist die Frau in der gelben Strickjacke sehr gut darin, in Notsituationen zu handeln. Als die Frau im lila Rock starr vor Angst überhaupt nicht mit einer Situation umzugehen weiß, gibt die Frau in der gelben Strickjacke ihr klare Handlungsanweisungen und hat sogar bereits für den Notfall vorgesorgt.
- Theorien 3: Die Frau im lila Rock ist sozusagen die Vorgeschichte der Frau in der gelben Strickjacke.
ACHTUNG: Spoiler!
Dafür spricht, dass die Frau im lila Rock am Ende der Erzählung untertauchen muss und verschwindet. Ihre Rolle in der Nachbarschaft, wie beispielsweise ihren festen Platz auf einer Parkbank, hat die Frau in der gelben Strickjacke eingenommen. Es wird im Laufe der Geschichte deutlich, dass die Frau in der gelben Strickjacke Probleme damit hat, mit anderen Menschen umzugehen und zu kommunizieren. Es könnte sein, dass die Frau im lila Rock ihre eigene Projektion ist, die es ihr möglich macht, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die Geschichte einer Frau, die bewundernswert war und Ambitionen auf ein glückliches Leben hatte und jetzt sozial isoliert nur für sich selbst lebt und ein Kuriosum für die Kinder im Park darstellt.
Spoiler Ende.
Die Theorien 2 und 3 teilen sich das gleiche Problem. Denn beide Frauen scheinen von ihren Kolleginnen durchaus wahrgenommen zu werden. Man bedenke allerdings, dass eine der beiden Frauen unsere Erzählerin ist, deren Zuverlässigkeit über die Genauigkeit ihrer Darstellung infrage gestellt werden kann. Hinweise darauf finden sich immer wieder im Roman. Beispielsweise wird die Frau im lila Rock durchweg als positive Person dargestellt. Die Frau in der gelben Strickjacke sucht bis zum Ende des Romans ihre Nähe und gibt viel für sie auf. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Frau im lila Rock nicht so perfekt sein kann, wie sie von der Frau in der gelben Strickjacke dargestellt wird.
Der Roman "Die Frau im lila Rock" ist so faszinierend, wie es verwirrend ist. Dieses Buch lässt einen nicht mehr los, auch lange, nachdem die letzte Seite umgeblättert ist. Auf nur knapp 130 Seiten bringt Natsuko Imamura unzählige Denkanstöße unter, die einen noch lange beschäftigen können.
"Die Frau im lila Rock"
von Natsuko Imamura
- übersetzt von Katja Busson
- 128 Seiten
- btb Verlag
- ISBN: 978-3-442-77486-9
- 13 Euro
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