Corona: Suche nach den Schuldigen

28.5.2020, 12:08 Uhr

Die sogenannten Anti-Hygiene-Demos, die in den vergangenen Wochen in vielen deutschen Städten stattfanden, haben ein großes öffentliches Echo hervorgerufen. Dies ist bemerkenswert, da es sich hier keineswegs um eine Massenbewegung handelt. Bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ist das Vertrauen in die Regierung und auch das Vertrauen in die Wissenschaft – dies zeigen aktuelle Umfragen – derzeit so hoch wie selten zuvor.


Neumarkter demonstrieren gegen Corona-Maßnahmen


So ist es einer relativ überschaubaren Gruppe von Protestierenden mit relativ wenig Aufwand gelungen, eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. Ein Grund für das starke öffentliche Interesse ist sicher die erhöhte Sensibilität für jede Art von Protest nach der Phase des Lockdowns. Für Aufsehen erregen jedoch vor allem die irritierenden Verschwörungsbotschaften von Teilen der Protestgemeinde, die schrillen Auftritte eines leidlich prominenten Vegankochs vor dem Berliner Reichstag und die seltsam entrückten politischen Parolen von einigen neuen selbsternannten "Querdenkern".

Protest lebt von körperlicher Nähe, von Lärm und von der Provokation

Angesichts dieser Bilder drängt sich die Frage auf, um was es bei diesen Protesten eigentlich geht: Geht es tatsächlich um die viel beschworenen "Bürgerrechte" oder um ganz andere politische Motive? Auch drängt sich die Frage auf, ob die starke öffentliche Fokussierung auf die extremen Auswüchse der Demonstrationen tatsächlich verhältnismäßig ist – um in diesem Kontext ein aktuell viel zitiertes Wort zu bemühen.

Man muss sich sicher nicht mit jeder versprengten Botschaft der Proteste auseinandersetzen. Auch sollte man nicht in jede Protestbewegung vorschnell den Beginn einer großen politischen Transformation hineininterpretieren. Doch die Ansammlung unterschiedlicher Gruppierungen, die Art der Inszenierung, die Aufheizung der Debatte sind Symptome einer neuen Protestkultur, der es auf den Zahn zu fühlen gilt.

Zunächst ist jedoch festzuhalten: Die Organisation von Protest in Zeiten von Corona ist – wie derzeit alles im öffentlichen Leben – wahrlich nicht leicht. Protest lebt von der Zusammenballung. Er lebt von der körperlichen Nähe und von der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Er lebt vom Lärm und von der Provokation, und, ja, auch von der gezielten Grenzüberschreitung.

All dies ist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich, ohne gegen die strengen Vorschriften zur Einhaltung der Abstandsregeln und weitere Beschränkungen zu verstoßen. Dies ist ein Drahtseilakt für alle Beteiligten: für die Protestierenden, aber auch für die Behörden und die Polizei. Selbstverständlich muss es möglich sein, seinen Unmut über diese Maßnahmen öffentlich zu äußern und gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte zu demonstrieren, ohne sofort als unsolidarisch, als Abweichler oder gar als Verschwörungstheoretiker abgestempelt zu werden. Diese Differenzierung geht in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Corona-Demonstrationen zuweilen verloren.

Für große Irritationen sorgen aber vor allem die abstrusen Botschaften (etwa "Gates, der große Weltverschwörer", "Merkel-Diktatur", "Zwangsimpfungen") und das aggressive Auftreten von vielen Protestierenden. Auch die eigentümlichen Koalitionen zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen erstaunen: Besorgte Eltern und neue Bürgerrechts- und Widerstandsbewegungen stehen häufig Seite an Seite mit eingefleischten Impfgegnern, neuen rechten Querdenkern, Reichsbürger/innen und Verschwörungsanhängern unterschiedlicher Art.

Manche Kommentatoren und Beobachter fragen sich daher besorgt, ob sich hier eine neue rechte Protestbewegung formiert und weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Denn es werden die gleichen Hassparolen gegen Politiker, "das System" und "die Systempresse" skandiert, die man seit Jahren von den Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik kennt.

Viele der geäußerten Verschwörungsnarrationen erinnern an längst vergangene Zeiten: etwa an das apokalyptische Eiferertum der Wiedertäufer aus dem 16. Jahrhundert oder an die hanebüchenen, jedoch immer gleichen Mythen einer jüdischen oder sonst wie gearteten (Welt-)Verschwörung. Dies irritiert, provoziert und macht fassungslos, vor allem wenn diese Thesen zunehmend in Familienchats, Freundeskreisen und alltäglichen Netzwerken kursieren und von Menschen vorgetragen werden, die man eigentlich für vernünftig hält.

Doch mit Kategorien wie Vernunft, Logik, Faktenwissen oder gar der Überzeugungskraft des besseren Arguments kommt man hier meist nur bedingt weiter.

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