Weltfrauentag

Expertinnen aus Franken erklären: So werden Frauen in der Medizin benachteiligt - und gefährdet

Minh Anh Nguyen

Online-Redaktion

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Alicia Kohl

Redakteurin

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08.03.2025, 05:00 Uhr
Das Schmerzempfinden von Frauen wird beim Arzt oft nicht ernstgenommen.

© BogdanPhoto via imago-images.de/IMAGO/Depositphotos Das Schmerzempfinden von Frauen wird beim Arzt oft nicht ernstgenommen.

Im Wartezimmer, im Behandlungszimmer und auf dem Untersuchungstisch: Dort sitzen sie. Überall. Die Männer. Allesamt jung und weiß. Doch sitzen ausschließlich sie dort? Wahrlich nicht.

In vielen Fällen befasst sich das Gesundheitswesen nach wie vor mit dem Mann. Medizinerinnen und Mediziner erforschen in der Theorie überwiegend den männlichen Körper, um dieses Wissen dann ebenmäßig auf alle Körper anzuwenden. Die bislang einseitige, auf dem Mann basierte Untersuchung, vernachlässigt aber nicht nur mindestens die Hälfte der Bevölkerung, sondern ist für diese auch geradezu gefährlich.

Zum Beispiel bei Chemo- und Immuntherapien, denn die wirken auf Mann und Frau unterschiedlich, sagt Alina Depardon, Assistenzärztin im Team der Strahlenklinik am Uniklinikum Erlangen. Konkret zeigten einige Patientinnen bei einem Chemotherapeutikum schlimmere Schleimhautreaktionen als Männer. Bei einer anderen Substanz hatten Patientinnen deutlich schlechtere Blutwerte.

Die Folgen der wenig erforschten Wirkungen sind dramatisch: Teilweise mussten Frauen aufgrund von Nebenwirkungen ihre Chemotherapie abbrechen, erzählt die Ärztin. Auch eine Meta-Analyse belegt, dass Frauen bei Chemo-, Immun- wie auch zielgerichteten Therapien ein deutlich höheres allgemeines Nebenwirkungsrisiko sowie ein höheres Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen haben. In anderen Feldern der Medizin zeigen sich ähnliche Auswirkungen.

Weibliche Probandinnen waren und sind für medizinische Studien nicht immer die erste Wahl, erklärt Lisa Deloch, Gruppenleiterin der Nachwuchsgruppe Strahlen – Osteoimmunologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Dabei spielt auch das Schwangerschaftsrisiko eine Rolle, da es schwieriger sei, schwangere Personen in Studien einzuschließen.

Daran orientierte sich auch die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA), als sie empfahl, Frauen im gebärfähigen Alter aus Phase-I-Studien auszuschließen. Mit eingeschlossen wurden aber auch Frauen, die verhüten, ledig sind oder deren Ehemänner eine Vasektomie haben. Diese Empfehlung galt von 1977 bis 1993 und ist unter anderem einer der Gründe für die Geschlechter-Datenlücke in der Medizin, sagt Deloch.

"Wir wissen gar nicht, was wir alles nicht wissen"

"Und dann haben wir ein bisschen die absurde Situation, dass jahrzehntelang Medikamente, die später an Frauen angewendet werden, nicht an Frauen erprobt wurden, um Frauen zu schützen", wie Annette Sattler, leitende Apothekerin am Klinikum Nürnberg und Teil des Gendermedizin-Symposiums des Klinikums. Diese Situation gehe auch auf den Contergan-Skandal im 20. Jahrhundert zurück.

In den 60er-Jahren fiel auf, dass Frauen, die das Beruhigungsmittel in der Schwangerschaft genommen haben, häufig Kinder mit Fehlbildungen an den Gliedmaßen geboren haben. Daraufhin wurden zwar die Arzneimittelgesetze verschärft. Gleichzeitig sei aber die Tendenz aufgekommen, Frauen wegen des Risikos gar nicht mehr in den Studien zu berücksichtigen, sagt Sattler.

Seit 2004 ist es nun vorgeschrieben, dass bei der Anmeldung einer Studie erklärt werden muss, wie die Unterschiede in der Wirksamkeit bei Frauen und Männern erkannt werden sollen. Sonst darf die Studie nicht durchgeführt werden. Trotzdem, sagt Sattler, werden die Ergebnisse dann nicht unbedingt offengelegt. "Das, was die Behörden alles überprüfen, das sehen wir oft gar nicht." Wie sich die Nebenwirkungen unterscheiden oder welche Dosierung besser sein könnte, kommt also am Ende doch gar nicht raus oder wird zumindest nicht mitgeteilt.

Sattler betont aber: "Wir sind auch keine unterschiedlichen Spezies." Die meisten Medikamente wirken auch bei unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen ähnlich, ein großer Unterschied sei eher das Risiko für Nebenwirkungen.

In der Forschung wird der Blick auf den weiblichen Körper oder auch spezifisch weibliche Krankheiten häufig nicht berücksichtigt. Denn sogar in den präklinischen Studien werden meist männliche Mäuse genutzt, um Medikamente im ersten Stadium zu testen, da dann keine Faktoren durch Zyklus und mögliche Trächtigkeit die Wirkung beeinflussen können."So gesehen kann man natürlich schon die These aufstellen, dass uns Frauen Medikamente vorenthalten werden, weil die schon in der allerersten Studie herausgefallen sind", sagt Sattler. Sie hätten aber theoretisch bei weiblichen Mäusen sogar die gewünschte Wirkung erzielen können. "Die Kenntnisse sind einfach zu wenig", sagt Sattler. Und das sei das Problem. "Wir wissen gar nicht, was wir alles nicht wissen."

Der Weg zur Individualmedizin

Auch deswegen hat sich an der FAU mittlerweile die AG Gendermedizin gebildet. Im Gespräch erklären Ellen Kohler und Paul Wagner, Medizinstudierende und AG-Mitglieder, dass die Thematik nach wie vor zu wenig beleuchtet wird. Die Studierenden machen vor allem auf das Bewusstsein für das Ungleichgewicht in der medizinischen Forschung aufmerksam, erklären aber auch, dass Männer von einer geschlechtssensiblen Medizin profitieren würden. Es gehe darum, "insgesamt Vorurteile abzubauen und systematisch Sachen zu verändern, sodass es für egal welches Geschlecht besser ist und die Ausgangsbedingungen besser sind", betonen die Studierenden.

Bisher nehmen vor allem Studentinnen an der AG teil – und das, obwohl alle Absolvierenden dann im Beruf Männer wie Frauen behandeln können müssen. Gerade bei Frauen wird das Schmerzempfinden noch häufig unterschätzt. "Solche Sachen kommen halt einfach durch Gesellschaftsstrukturen", sagt Wagner.

In der Regel werden Frauen bei Schmerzempfinden nicht ernst genommen, gerade wenn es um gynäkologische Probleme geht, erklärt Depardon. Diese allgemeine Überzeugung führt vermutlich auch dazu, dass Frauen selbst ihren Körper nicht ernst genug nehmen. An einen konkreten Fall erinnert sich die Ärztin noch genau, als eine Patientin ihre eigenen Beschwerden nicht beachtete, diese dann aber auf weit fortgeschrittenen Gebärmutterhalskrebs zurückzuführen waren.

Die bisher herrschende Datenlücke betreffe nicht nur Frauen, sondern unter anderem auch alte Menschen, erklärt Deloch. Demnach haben Medizinerinnen und Mediziner sich bisher eher auf junge, in vielen Fällen auch weiße Männer fokussiert. Ein Grund dafür sei aber auch, dass die Zusammenstellung einer repräsentativen Probandengruppe insofern schwierig sei, da die Forschenden bereits Probleme mit der grundsätzlichen Gewinnung von Teilnehmenden haben, sagt Depardon. Das Bewusstsein für die Ungleichheiten wird aber größer, glauben beide Wissenschaftlerinnen. Der Weg wird nur vermutlich noch ein längerer sein.

Sattler vom Klinikum Nürnberg sieht immer mehr die Notwendigkeit zur individualisierten Medizin. Denn die Wirkung von Medikamenten unterscheidet sich nicht nur bei den Geschlechtern, sondern auch dem Alter und verschiedenen Ethnien. Bei Menschen, die wegen geschlechtsangleichender Operationen Hormone nehmen, muss auf Dosis und Verträglichkeit von Arzneimitteln geachtet werden. Die Individualmedizin würde die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzeln betrachten. "Und davon profitieren ja alle", sagt Sattler. Besonders durch Personalkapazitäten sei diese Form der Behandlung aber schwer umzusetzen.