Incels: Der mörderische Hass der verschmähten Männer

Christian Urban

E-Mail zur Autorenseite

13.4.2020, 14:01 Uhr
Mit diesem Lieferwagen tötete am 23. April 2018 der 25-jährige IT-Student Alek Minassian zehn Menschen und verletzte 15 weitere. Minassian hatte sich zuvor im Internet als Incel bezeichnet.

© Aaron Vincent Elkaim/The Canadian Press/dpa Mit diesem Lieferwagen tötete am 23. April 2018 der 25-jährige IT-Student Alek Minassian zehn Menschen und verletzte 15 weitere. Minassian hatte sich zuvor im Internet als Incel bezeichnet.

Eigentlich hatte die Kanadierin Alana - ihren vollständigen Namen möchte sie nicht in den Medien lesen - nur Gutes im Sinn, als sie Ende der 90er Jahre eine Selbsthilfegruppe im damals noch sehr jungen Internet gründete. Ihr Anliegen: Jungen Menschen wie sie selbst, die bei der Partnersuche und dem Aufbau von Beziehungen größere Probleme hatten als die anderen, eine Plattform zum Austausch geben.

“Alana*s Involuntary Celibacy Project” war der Name der Gruppe. Sehr grob übersetzt: Alanas Projekt für unfreiwillig zölibatär Lebende. Also für Menschen, die gerne eine Partnerin oder einen Partner für eine sexuelle Beziehung hätten, dazu aber einfach nicht in der Lage sind. Weil sie beispielsweise an Minderwertigkeitskomplexen leiden - oder sie sich aus anderen Gründen schlicht nicht trauen, Menschen anzusprechen. Als Kurzform des Projekts bildete sich relativ schnell ein Kunstwort: Incel.

Etwas mehr als 20 Jahre später hat Alana ihr Projekt längst hinter sich gelassen - und von dem positiven Grundgedanken ist nichts mehr übrig. Stattdessen ist “Incel” zur Bezeichnung einer Gruppierung von nahezu ausschließlich weißen, heterosexuellen Männer geworden, die drei Dinge gemeinsam haben: Eine lange Zeit ohne Partnerin und Sex, schier grenzenloses Selbstmitleid - und einen abgrundtiefen Hass auf Frauen.

Basis des Incel-Weltbildes ist die archaische Auffassung, dass Männer ein grundlegendes Recht auf Sex mit einer Frau haben, weshalb sie sich zu Versagern degradiert fühlen. Schuld daran sind ihrer Ansicht nach aber nicht sie selbst, sondern die Frauen - schließlich tendieren diese häufig dazu, lieber gar keinen Sex zu haben als mit einem Mann intim zu werden, der so gar nicht ihren Vorstellungen entspricht. Auch den Feminismus, durch den die Frauen mehr Selbstbestimmung erlangt haben, machen sie dafür verantwortlich.

Virtueller Treffpunkt der Gruppierung war lange die Online-Community reddit.com. Mehr oder weniger ungehindert konnten die Mitglieder dort Hass- und Vergewaltigungsfantasien ausbreiten und sich gegenseitig Tipps geben, wie man Mädchen und Frauen möglichst perfide terrorisieren kann, bis schließlich 2017 die Seitenbetreiber eingriffen und dem ein Ende machten.

Trotz der teilweise unaussprechlichen Dinge, die sie Frauen gerne antun würden, sehen sich Incels meist als wahre Gentlemen, die mangels Attraktivität von den Frauen zu Unrecht verschmäht werden, weil diese sich ausschließlich zu Partnern mit Macht, Geld und gutem Aussehen hingezogen fühlen. In englischsprachigen Foren entstand in diesem Zusammenhang eine Subkultur mit einem eigenen Wortschatz. Das Klischee des gutaussehenden Mannes trägt den Namen “Chad”. Frauen dagegen werden als “feminazi” oder “femoid” - ein Kofferwort für “weiblicher Humanoid” - bezeichnet, attraktive bekommen meist den Namen “Stacy”.

Auch die “Red Pill” taucht häufig auf. Entlehnt ist der Begriff den “Matrix”-Filmen, in der der Protagonist Neo, der ahnungslos in einer künstlichen Scheinwelt lebt, erst durch das Schlucken einer roten Pille in der wirklichen Welt aufwacht. In der Incel-Szene steht diese rote Pille unter anderem für die vermeintliche Erkenntnis, dass die Gesellschaft in attraktive und unattraktive, sexlose Menschen aufgeteilt ist und sie selbst zur zweiten Gruppe gehören.

Wenn sie zu lange in Selbstmitleid gebadet haben und die Gedanken dann schließlich wegen der gefühlten Ungerechtigkeit der Welt um Selbstmord oder Mord kreisen, ist von der “Black Pill” die Rede. Spätestens an diesem Punkt wird der Incel gefährlich. Für sich selbst - oder auch für andere.

So wie der 22-jährige Elliot Rodger, der am 23. Mai 2014 in der Nähe der University of California sechs Menschen tötete, dreizehn weitere teilweise schwer verletzte und sich schließlich durch einen Kopfschuss umbrachte. Vor seinem Amoklauf hatte Rodger ein 141 Seiten umfassendes Manifest mit dem Titel “My Twisted World: The Story of Elliot Rodger” - “Meine verdrehte Welt: Die Geschichte des Elliot Rodger” verfasst. Darin beschrieb er unter anderem sein Vorhaben als “Krieg”, um alle Frauen dafür zu bestrafen, dass sie ihm “Sex entzogen” hätten. Auch fantasierte er darüber, Frauen in Konzentrationslagern zu Tode hungern zu lassen und ihnen beim Sterben zuzusehen.

Als dann am 23. April 2018 der 25-jährige IT-Student Alek Minassian bei einer Amokfahrt im kanadischen Toronto zehn Menschen tötete und 15 weitere verletzte, war das Thema schließlich endgültig im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen. Minassian hatte zuvor in den sozialen Netzwerken geschrieben, die “Incel Rebellion” habe begonnen. Dabei hatte er sich auch auf Elliot Rodger bezogen, der seit seiner Bluttat in der Szene als "oberster Gentleman" verehrt wird.

Obwohl die Bewegung ihren Ursprung in den USA und Kanada hat, kam es in der jüngeren Vergangenheit auch in Europa immer wieder zu Gewalttaten, Amokläufen und Terroranschlägen, deren Täter zumindest teilweise dem Incel-Dunstkreis zuzurechnen sind. So sind beispielsweise im Manifest des Masssenmörders Anders Behring Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Jugendliche und Erwachsene tötete, zahlreiche frauenfeindliche Passagen zu finden - so wie auch beim Attentäter von Halle.

Tobias R., der am 19. Februar dieses Jahres in Hanau zehn Menschen und dann sich selbst tötete, widmete in seinem rassistischen Pamphlet dem Thema Frauen gar ein eigenes Kapitel. Darin schildert er, wie "freude- und leistungshemmend" es für ihn war, als Jugendlicher keine feste Freundin gehabt zu haben und erklärt weiter, an weniger gut aussehenden Frauen habe er kein Interesse gehabt.

Selbst in Nürnberg hat sich vor nicht allzu langer Zeit eine Tat ereignet, bei der zumindest der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie aus vergleichbaren Motiven begangen wurde. Am 13. Dezember 2018 rammte Daniel G., ein Wohnungsloser aus Sachsen-Anhalt, im Stadtteil Johannis zwei Frauen auf offener Straße ein Messer in den Bauch und einer dritten Frau in den Rücken. Nur durch Glück überlebten die teils lebensgefährlich verletzten Frauen. Daniel G. wurde im Oktober 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis heute hat er sich nicht dazu geäußert, was ihn zu der Bluttat getrieben hat, doch der Staatsanwalt erinnerte im Prozess an eine Aussage des Vaters von G.: Er hatte von einem "Hass auf Frauen" gesprochen.

Wie geht die Kanadierin Alana damit um, dass ihr ursprünglich so positiver Ansatz im Laufe der Jahre von hasserfüllten Männern gekapert wurde und sogar Menschen sterben mussten? 2018, nach der Amokfahrt von Toronto und geprägt von den anderen Bluttaten, stellte sie ein neues Projekt im Internet auf die Beine. Es soll eine direkte Antwort auf die Incel-Morde sein. Und so trägt ihre neue Seite eine unmissverständliche Botschaft bereits im Titel: “love, not anger”, lautet der Name. “Liebe statt Zorn”.