Wegen Corona: "Eine unfassbare Verantwortung, die auf uns liegt"
21.3.2020, 17:50 UhrHerr Prof. Dabrock, was machen Sie gerade? Auch Home-Office?
Peter Dabrock: Na klar, wo sonst: Aber ich würde es so beschreiben: Home und Office. Zwei Berufstätige und zwei Kinder, die Bewegung und Sport lieben und gerne mit Freunden zusammen sind.
Momentan ist dieses Daheimsein für viele noch ganz nett. Aber was, wenn wir dazu für Wochen oder, wie es aussieht, etliche Monate verpflichtet sind? Halten Menschen, halten Familien das aus?
Dabrock: Einerseits ist es großartig zu sehen, welche Ressourcen im Privaten wie in den öffentlichen Qualitätsmedien aktiviert werden, um mit diesem Ausnahmezustand umzugehen. Aber Menschen brauchen nicht nur Rückzug, sondern auch Ausgang und Bewegungsmöglichkeiten. Deshalb ist es nicht nur, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und die Menschen mit erhöhtem Risiko zu schützen, unbedingt geboten, die Ausgangsbeschränkungen strikt einzuhalten. Es ist auch ein Selbstschutz um des Friedens in Familien und der Gesellschaft willen. Schlimm wäre es, wenn noch einschneidendere Maßnahmen eingeführt werden müssten. Das könnte wirklich zu Aggression und Gewalt führen. Das kann keiner wollen.
Humor kann gegen Klopapier-Hamsterer helfen
Die Krise zeigt all das Gute und all das Schlechte, was in uns Menschen steckt. Beginnen wir, typisch journalistisch, mit dem Schlechten und den Konflikten, die entstehen. Der Klassiker momentan: Einkaufen - und da sind Menschen, die den anderen die letzten Nudeln oder Klopapierrollen wegschnappen und keinen Abstand halten. Soll man die ansprechen?
Dabrock: Schön ist das nicht. Aber es ist immer schwierig, in einer angespannten Situation im Laden Menschen auf ihr Fehlverhalten anzusprechen – klar, bei besonders eklatante Fällen vielleicht, z.B. wenn einem anderen, vielleicht einer älteren Person, was vor den Augen weggenommen wird. Aber zwei Alternativen scheinen mir angesichts dessen, dass ja jeder seine Schwächen hat, angemessener: Es wäre hilfreich, wenn noch mehr Geschäfte durch Absperrbänder und Klebestreifen helfen, dass die Menschen das richtige Verhalten einüben. Nudging nennt man das neudeutsch. Und zweitens: Humor. In vielen, vor allem größeren Lebensmittelgeschäften gibt es doch inzwischen Bildschirme. Vielleicht sollte man da in Dauerschleife mal welche von diesen so spaßigen Videos laufen lassen, wo Lebensmittel mit der Zweitwährung Klopapier gekauft oder Klopapierrollen im Acker eingepflanzt werden, um weitere zu ernten. Oder man klebt ein Schild mit dem lustigen Zitat des holländischen Ministerpräsidenten Rutte an die Regale, wo normalerweise das Klopapier liegt („Wir haben so viel, wir können zehn Jahre kacken“). Vielleicht hilft so etwas, auf humorvolle Weise irrationales Verhalten gespiegelt zu bekommen und so einzudämmen.
Die Wirtschaft steht vor einem Einbruch ohnegleichen - mit dramatischen Folgen...
Dabrock: Ja, die Folgen sind – je länger das Ganze dauert – unabsehbar. Und je länger es dauert, um bedrängender wird die Frage: Wie lange können wir das? Wie lange halten die bestgemeinten Solidaritätsressourcen? Wenn das deutsche, ach was das europäische, ach was das globale Wirtschaftssystem nachhaltigen Schaden nimmt, wenn es vielleicht mehr als ein Jahrzehnt benötigt, sich wieder zu erholen, wenn also nicht nur unsere, sondern die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder auf lange Zeit verdunkelt wird – wer will das verantworten? Zum Glück stehen diese Fragen akut nicht an; ja, man muss sogar sagen: Wenn jeder von uns sich jetzt am Riemen reißt, erhöht sich die Chance, dass diese so schwere Zeit möglichst kurz gehalten wird. Aber nochmals: je länger es dauert, werden wir nicht umhinkönnen, auch diese Fragen nach langfristiger Verantwortung und Solidarität zu stellen. Wir müssen uns darauf mental vorbereiten. Das sind ja keine theoretischen Gedankenspiele, hier geht es um Menschenleben. Eine unfassbare Verantwortung, die auf uns liegt.
Die Medikamentenversorgung stößt an Grenzen, etliche Mittel werden rar. Wer bekommt im Zweifel welches Medikament? Wer trifft darüber die Entscheidung?
Dabrock: Heute ging die Meldung über den Ticker, dass in der nun anstehenden Sitzungswoche des Bundestages die Kompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern gestärkt werden sollen, um Seuchen wie eben Covid-19 wirksamer bekämpfen zu können. Einen solchen Schritt, so er kommt, begrüße ich ausdrücklich. Zwar hat bisher die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern recht gut geklappt, aber gerade wenn sich – womit ja zu rechnen ist – die Krise verschärft, ist eine zentrale Koordination schneller und effektiver Maßnahmen dringend vonnöten. Im Übrigen: viele Kompetenzen bleiben bei den Ländern. München muss sich Berlin nicht einfach unterordnen.
Schlimmste Szenarien
Noch schwieriger: Wer wird zuerst behandelt, zuerst operiert, wenn es eng wird in den Kliniken - siehe Italien? Erst diejenigen, die bessere Überlebenschancen haben?
Dabrock: Diese Szenarien gehören zum Schlimmsten im klinischen Alltag. Es werden tatsächlich gerade auch bei uns Empfehlungen erarbeitet, wie man mit dieser schrecklichen Situation möglichst verantwortlich umzugehen hat. Verantwortung heißt hier: sich dem Dilemma stellen, heißt auch die Bereitschaft, Schuld zu übernehmen, wie es Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt hat; heißt aber in dieser Klammer auch, den Schaden möglichst gering halten. Dazu sind in der Katastrophenmedizin eine Reihe von Kriterien entwickelt worden, die jetzt auf die Corona-Pandemie übertragen werden. Wichtig ist auch, wenn jemandem nicht mehr die lebenserhaltenden Maßnahmen, die er benötigt zuteil werden, dass er dann ausreichend palliativ versorgt wird. Aber ich hoffe, dass es nicht so weit kommt …
Was bei einem Unglück einmal passiert, scheint in Italien auf Dauer gestellt zu sein: Neu ankommenden Schwerstkranken werden lebensrettende Behandlungen vorenthalten. Aber auch: Patienten mit schlechter Prognose werden von Beatmungsgeräten abgenommen und einer rein palliativen Therapie zugeführt, um die knappen Beatmungsplätze für Menschen mit besserer Prognose freizumachen. Andere lebenserhaltende Operationen können nicht mehr durchgeführt werden. Schreckliche Zustände – nur wenige hundert Kilometer von uns entfernt. Droht das bei uns? Ich hoffe es nicht. Erstens haben wir weit mehr Betten und Beatmungsplätze als in Italien, zweitens können wir jeden Tag, an dem wir noch unterhalb der Kapazitätsgrenze der Kliniken arbeiten, nutzen, um uns noch besser auf die ja nicht mehr abzuwendende Verschärfung der Krankheitsausbreitung vorzubereiten. Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass die strengen hygienischen Regeln und die Maßnahmen der Ausgangsbeschränkungen eingehalten werden. Haltet die Kurve flach, streckt sie über die Zeit – nur so überfordern wir das System, genauer: die Menschen im System nicht (noch mehr). Man soll daher die am Samstag eingeführten Ausgangsbeschränkungen nicht als Freiheitseinschränkung, sondern als Akt der Solidarität mit älteren und (chronisch) kranken Mitmenschen begreifen – es könnte Deine Oma oder Dein Bruder oder auch Dein Kind sein. Die Konsequenzen, die zu Recht drohen, wo die erkennbar gebotene Solidarität nicht erbracht wird, hat Markus Söder in eine eindrückliche Formulierung gegossen: „Diejenigen, die sich schwer tun, diesen Charaktertest zu bestehen, denen geben wir jetzt Regeln, damit sie sich einbringen.“ Aus ethischer Sicht kann ich nur sagen: Ich teile das.
Zu erleben ist: Wir halten zusammen
Wie beurteilen Sie die Rolle der Politik? Hat sie zu spät gehandelt?
Dabrock: In einer solchen Ausnahmesituation fehlt mir die Muße zu fragen: War alles richtig oder nicht? In Normalzeiten wollen die Menschen moderate Beiträge für ihre Krankenkassen. Das führt zu Preisdruck im System. Deshalb hat man in den letzten Jahren Lagerkapazitäten, z.B. für Schutzkleidung reduziert. Niemand hat sich bis vor wenigen Wochen darüber aufgeregt. Jetzt wissen mir zu viele, dass man das schon immer hätte anders machen müssen. Mir ist jetzt wichtig zu sehen und es stärkt mein Vertrauen in die Entscheidungsträger: Nicht immer ist alles vollständig koordiniert, manches könnte besser laufen, aber seit mindestens zwei Wochen werden mit größter Entschlossenheit im Bund und in den Ländern – gerade auch bei uns in Bayern – zahlreiche notwendige Maßnahmen getroffen, von denen noch vor drei Wochen wahrscheinlich fast niemand gedacht hätte, dass er oder sie das in Deutschland je wird erleben müssen. Aber der Zweck rechtfertigt, jedenfalls zeitlich befristet, diese einschneidenden Maßnahmen. Und mich beeindruckt die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, das mitzutragen, ja wo möglich Hilfe zu leisten oder die Helfer moralisch oder finanziell zu unterstützen. Hier und nicht in hetzerischen Demonstrationen erlebe ich: Wir sind ein Volk! Wir halten zusammen – und vergessen hoffentlich nicht die anderen Probleme der Welt.
"Vorpreschen erscheint mir sinnvoll"
Welchen Eindruck macht das auf die Bürger, wenn einzelne Länder - vor allem Bayern - vorpreschen und geplante Abstimmungs-Termine über gemeinsames Verhalten nicht einhalten? Söder hat seine Ausgangsbeschränkungen ja vor der Schaltkonferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin am Sonntag verkündet, im Alleingang...
Dabrock: Machen wir uns nichts vor: Auch in der Bewältigung der Krise geht es um Politik. Ist das schlimm? Nein, wenn es in dieser gewissen Konkurrenz dem Wohl des Gesamten dient. Ich war bei den Vorgesprächen nicht dabei, aber das Vorpreschen Bayerns, schon vor dem Wochenende die Ausgangsbeschränkung einzuführen, hielt ich um des Zieles, die Ausbreitung zu verlangsamen, für sinnvoll. Mir ist das Wort eines führenden Infektionsmediziners im Ohr: Schnelligkeit ist wichtiger als Perfektion. Aber Koordination statt Kompetition sollte, vor allem wenn sich die Krise noch mehr verschärft, den Umgang miteinander prägen.
Und nun zum Guten in uns Menschen. Zu sehen ist sehr viel Hilfe und Solidarität. Kann das über die Krise hinweg das polarisierte Land wieder zusammenführen?
Dabrock: Ich bin a) vorsichtig, was Langzeitprognosen anbetrifft. Wer kennt es nicht: Wenn der Mensch Krisen überwunden hat, freut er sich auch wieder an Normalität und vergisst die hehren Vorsätze und Einschätzung, die ihn durch den Ausnahmezustand getragen haben. Wir sollten uns hüten, da zu groß von uns zu denken. Und dennoch rückt die gegenwärtige Dramatik einiges zurecht, worüber wir in den letzten Jahren gestritten hatten. In diesen Tagen wundert man sich doch über zurückliegende Diskussionen: Wer will angesichts dieser Herausforderungen bezweifeln, dass wir einen starken Staat, auch Sozialstaat, mit funktionierenden Institutionen benötigen? Das braucht Steuergelder und Beiträge, die zu senken man nicht leichtfertig versprechen sollte. Wer bezweifelt, dass wir seriöse Medien gebrauchen – mit Streamingdiensten kann man zwar die Stunden tothauen, aber nicht sich über die lokalen bis globalen Dynamiken in der Pandemie quasi in Echtzeit informieren? Wer kann jetzt noch bezweifeln, dass ein so lebendiger Kulturbetrieb, wie wir ihn in Deutschland haben, nur funktioniert, wenn wir eine solide funktionierende Wirtschaft haben? Und wie gut ist es, dass wir in Deutschland eine Sozialpartnerschaft haben, in der man nicht immer, aber oft mit- und nicht gegeneinander agiert. Wer braucht Parteien, die nur meckern und außer platten Parolen keine ernsthafte Lösungskompetenz haben? Vielleicht denken mehr Leute darüber nach, dass das, was Verantwortungsträger in Politik und Verwaltung tun, doch gar nicht so schlecht ist. Wir haben das Haar in der Suppe gesucht.
"Die schweren Tage, Wochen, Monate stehen noch bevor"
Wie könnte die Krise die Welt verändert haben, wenn sie überwunden ist?
Dabrock: Seit dem Zweiten Weltkrieg, so die Bundeskanzlerin, haben wir nicht eine so große Herausforderung erlebt. Ja, die schweren Tage, Wochen, vielleicht Monate und Jahre stehen uns noch bevor – das kann ich nicht ausschließen, auch wenn ich, wie wohl alle, hoffe, dass es nicht so kommen möge. Bis auf die Hochbetagten erleben alle anderen Generationen die Begrenztheit und Anfälligkeit des oft so selbstverständlich daher plätschernden Lebens. All das zeigt: Nichts ist selbstverständlich, alles ist viel wertvoller, als wir lange Zeit selbstgefällig geglaubt haben.
Jenseits dieser philosophisch anmutenden, aber in diesen Tagen mit Leben gefüllten Spruchweisheiten ist mir ein anderer Punkt wichtig: Diese Tage zeigen, wo die wahren Helden unserer Gesellschaft stehen, im Beamtendeutsch: die als „systemkritisch“ oder „systemrelevant“ bezeichneten Kräfte. Schon in der Krise müssen wir Ihnen nicht nur applaudieren, wie die schöne Geste, die Dienstagsabends gezeigt wird, sondern wir müssen sie schützen: konkret alles muss getan werden, dass die Schutzausrüstungen da sind, dass Menschen an der Kasse auf hygienische Vorkehrungen des social distancing treffen- ja und, dass wir ihnen freundlich begegnen. Schlißlich; jetzt oder allerspätestens nach der Krise sollten wir mal ernsthaft anfangen, dieser sozialen Anerkennung auch eine finanzielle folgen zu lassen. Die Gehaltstrukturen unserer Gesellschaft sollten neu debattiert werden.
Aktuelle Informationen: Hier finden Sie den Live-Ticker zur Corona-Krise
"Mich beeindruckt die Phantasie in den Gemeinden"
Sie sind nicht nur Ethiker, sondern auch überzeugter Protestant. Welche Rolle spielt Ihr Glaube momentan?
Dabrock: Wie tief der Einschnitt der Krise ist, merkt man nicht zuletzt daran, dass keine Gottesdienste und kirchlichen Veranstaltungen mehr stattfinden. Das hat es nicht einmal im Krieg gegeben. Dennoch halte ich solche Maßnahmen – jetzt religiös gesprochen – für ein Gebot der Nächstenliebe und hätte mir letztes Wochenende von den Kirchenleitungen ein schnelleres und entschiedeneres Handeln in diese Richtung gewünscht. Es bedrückt mich zu sehen, dass junge Paare ein Jahr auf ihre große Hochzeit hin gefiebert haben, die jetzt abgesagt wird; noch mehr, dass die Vorbereitung und Durchführung einer Beerdigung – für Angehörige so ein erschütternder Moment in ihrem Leben – nur noch so minimalistisch erfolgen kann. Aber um mit Hoffnungsvollem zu schließen: Mich beeindruckt zutiefst und lässt mein Herz hüpfen, wenn ich die Phantasie in den Gemeinden sehe, wie man über die unterschiedlichsten medialen Kanäle die Botschaft weiter, nein neu verkündet, wie man Nachbarschaftshilfen, gerade für Ältere, organisiert und wie man am Ende des Tages singt: Der Mond ist aufgegangen – und darin heißt es ja auch: „Seht ihr den Mond dort stehen // Er ist nur halb zu sehen // Und ist doch rund und schön. // So sind wohl manche Sachen, // Die wir getrost belachen, //Weil unsre Augen sie nicht seh'n.
Vielleicht denken wir in den nächsten Wochen an diese tröstenden Worte.
Was soll ich tun, wenn ich selbst den Verdacht habe, an dem Virus erkrankt zu sein? Hier haben wir häufig gestellte Fragen zum Coronavirus zusammengestellt. Bayern hat wegen des Coronavirus den Katastrophenfall ausgerufen - das hat weitreichende Konsequenzen. Unter anderem fallen viele Großveranstaltungen in Franken aus oder werden verschoben.
Außerdem gelten bei Supermärkten nun geänderte Öffnungszeiten. Sollte man beim Einkaufen überhaupt noch mit Scheinen und Münzen zahlen? Ein Experte klärt auf, ob Corona auch über Geld übertragen werden kann.
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