Mudra

Drogenhilfe: "Durch die Pandemie ist das Menschliche verloren gegangen"

13.8.2021, 08:40 Uhr
Die Situation für drogenabhängige Menschen hat sich während der Corona-Pandemie noch weiter verschärft, wie Hilfestellen berichten. (Symbolbild) 

© dpa Die Situation für drogenabhängige Menschen hat sich während der Corona-Pandemie noch weiter verschärft, wie Hilfestellen berichten. (Symbolbild) 

"2020 und Corona überlebt" – diese Notiz in grüner Schrift ist im Gedenkbuch des Nürnberger Drogenhilfevereins Mudra notiert. Für viele Menschen war das vergangene Jahr einschneidend, der Tod war im öffentlichen Bewusstsein plötzlich allgegenwärtig. In der Lebensrealität drogenabhängiger Menschen ist er jedoch ständiger Begleiter. Jahr für Jahr leben sie mit der Angst selbst an einer Überdosis zu sterben. Die Pandemie hat Konsumierende auch in Nürnberg vor zusätzliche Herausforderungen gestellt.

"Die Menschen ekeln sich vor dir"

"Das Menschliche ist verloren gegangen, die Menschen ekeln sich vor dir", antwortet Gustavo (Name geändert) dem die Schweißperlen von der Stirn herunterrinnen auf die Frage, was sich im vergangenen Jahr für Drogenabhängige in Nürnberg verändert hat. Seit Anfang Juni 2021 ist der Kontaktladen des 1980 gegründeten Vereins Mudra an der Ottostraße wieder geöffnet. Der Verein bietet Konsumierenden mit dem "Laden" ein niedrigschwelliges Angebot, das sich an deren Lebensrealität orientieren soll. Die Konsumierenden kommen auf Kaffee und Kuchen vorbei, holen sich ein warmes Mittagessen oder treten miteinander in Austausch. Die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen des Vereins kümmern sich um Therapieplätze, bearbeiten gemeinsam Anträge und unterstützen niedrigschwellig in organisatorischen Angelegenheiten.

Keine Entspannung

Noch fährt der Kontaktladen langsam wieder hoch, das zurückgekehrte Angebot muss sich in der Szene erneut herumsprechen. Während der Hochphase der Corona-Pandemie lief der Laden an der Ottostraße auf Notbetrieb. In dringenden Fällen konnten die Konsumierenden zum Beispiel ihre Wäsche waschen oder sich eine Mahlzeit abholen. Die besonders gefährdete Zielgruppe habe man unter anderem durch ein verstärktes Streetwork-Angebot und zusätzliche Beratungshilfen durchgehend erreicht, wie Martin Kießling, Sozialpädagoge und Streetworker bei der Mudra, betont. Virtuelle Angebote würden hingegen vor allem in der Straßenszene nicht ankommen, die Hürden seien zu hoch, weiß Kießling.

Blinde Flecken über den Zustand und die Probleme der Menschen hätten sich im vergangenen Jahr ein wenig vergrößert. Der unmittelbare Kontakt zu Abhängigen sei teilweise abgerissen, resümiert Kießling. Für das Jahr 2020 verzeichnete die mittelfränkische Polizei 23 Drogentote im Nürnberger Stadtgebiet. Ein leichter Rückgang zu 34 Toten im Vorjahr, den die Mudra als nicht nennenswerte Schwankung einordnet. Von einer Entspannung könne nicht die Rede sein, zumal die bundesweiten Zahlen eine andere Sprache sprechen. Im Vergleich zu 2019 nahm die Zahl der im Bundesgebiet in Folge von Drogenkonsum verstorbenen Menschen im Jahr 2020 um 10,2 Prozent zu. Hinter all den Zahlen und Statistiken stecken immer auch persönliche Schicksale.

"Wo soll man ohne Zuhause hin?"

Das vergangene Jahr war für die Abhängigen enorm schwierig. Denn: Drogenkonsum geht mit vielen anderen sozialen Problemen einher, unter anderem Obdachlosigkeit. "Wo soll man während einer Ausgangssperre hin, wenn man kein Zuhause hat", erinnert sich Gustavo an die Zeit der nächtlichen Ausgangsbeschränkung. Der Ende 20-Jährige ist heroinabhängig und kam während seines achten Lebensjahres erstmals mit Drogen in Berührung. Das Leben auf der Straße sei immer stressig, Kontakte untereinander wären überlebenswichtig. Kontaktbeschränkungen und Verbote funktionieren hier nicht. "Nachts war man ständig auf der Flucht. Wenn eine Streife kam, hat man sich schnell in Hauseingängen versteckt."

Bußgelder wegen fehlendender Maske seien vor allem im Nürnberger Hauptbahnhof an der Tagesordnung gewesen, er selbst hätte rund 400 Euro zahlen müssen. "Wie soll das funktionieren, wenn man sich schon keine Maske leisten kann?", fragt Gustavo, der die Geldstrafe im Gefängnis abgesessen hat. Insgesamt seien benachteilige und stigmatisierte Personengruppen noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt und abgehängt worden. Die Hürden im Gesundheitsschutz seien während der Pandemie – für die ohnehin gesundheitlich stark gefährdete Personengruppe – enorm hoch gewesen: "Ohne Handy oder E-Mail-Adresse konnte man keine Corona-Tests machen". Durch diese zusätzliche Stigmatisierung verliere man die Hoffnung, gibt Gustavo, der nach eigener Aussage selbst weder über Handy noch Mailadresse verfügt, resigniert zu bedenken.

Rückfall nach Jobverlust

Der Drogenkonsum hat sich im vergangenen Jahr vom öffentlichen überwiegend in den privaten Raum verlagert. Insbesondere das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und die Ausgangsbeschränkungen haben Konsumierende vor diverse Herausforderungen gestellt. Fehlende Menschen in der Innenstadt bedeuten auch niedrigere bis keine Einnahmen durch Schnorren. Umso mehr freut sich Clara (Name geändert) über das zurückkehrende Leben in der Innenstadt. Sie sitzt ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt vom Kontaktladen in der Nürnberger Innenstadt und bettelt mit einem durchsichtigen Plastikbecher um Geld.

Die junge Frau hat soeben von den Streetworkern sauberes "Besteck", darunter Einweg-Spritzen, Nadeln und einen Löffel bekommen. Nachdem Clara vorher zwei Jahre lang "clean" war, wurde sie während der Corona-Pandemie rückfällig. Mit dem Verlust des Jobs in einem Getränkemarkt fehlte eine Struktur. Der Halt brach weg. "Viele meiner Kontakte haben mit dem zusätzlichen Druck einen psychischen Knacks bekommen", meint Clara. Den szenetypischen Kreislauf aus Drogenkonsum, Beschaffungskriminalität und Gefängnisstrafe möchte sie zukünftig durch das Nutzen eines Substitutionsangebotes durchbrechen. Im Rahmen des Angebotes erhalten Konsumierende Zugang zu ärztlich verordneten Ersatzstoffen – ein Schritt, der Leben retten soll und raus aus der Abhängigkeit führen kann. Einer, der aufgrund hoher Hürden in Nürnberg jedoch nur circa 30 Prozent der Betroffenen tatsächlich erreicht, wie der Verein Mudra kritisiert.