"Ich vermisse ihn immer noch sehr!"

Nürnberg benennt Platz nach erstem NSU-Opfer Enver Şimşek - Sohn mit emotionaler Rede

Max Söllner

Volontär in der Lokalredaktion Nürnberg

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13.9.2021, 20:15 Uhr
Sohn Abdulkerim Şimşek und Oberbürgermeister Marcus König (von links nach rechts) enthüllen das neue Schild.

Sohn Abdulkerim Şimşek und Oberbürgermeister Marcus König (von links nach rechts) enthüllen das neue Schild. © Max Söllner, NNZ

"Er wollte etwas aus seinem Leben machen", sagte Abdulkerim Şimşek über seinen Vater Enver Şimşek. Im Alter von 24 Jahren kam er aus der Türkei nach Deutschland, lebte mit seiner Frau und zwei Kindern im hessischen Schlüchtern. Als Blumenhändler betrieb er mehrere mobile Verkaufsstände. Harte Handarbeit sei das gewesen - laut Abdulkerim Şimşek hätte es ihn stolz gemacht, seine beiden Kinder einmal studieren zu sehen.

Doch vor 21 Jahren wurde in Langwasser an der Liegnitzer Straße, wo sich einer der Verkaufsstände befand, mehrfach auf Enver Şimşek geschossen - "weil er für die Täter ein Ausländer war", wie Abdulkerim Şimşek betont. Als erster von insgesamt zehn Todesopfern der rechten Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) verstarb Şimşek zwei Tage später im Alter von 38 Jahren.

Abdulkerim Şimşek während seiner Rede.

Abdulkerim Şimşek während seiner Rede. © Max Söllner, NNZ

Seit Montag, den 13. September, heißt der Tatort nun Enver-Şimşek-Platz. Es ist ein kleiner, unscheinbarer Parkplatz am Waldrand, der zu diesem Anlass neuen Asphalt und Rasen erhalten hat. Rund 60 Menschen sind zur Einweihungszeremonie gekommen.

Zeichen des Umdenkens

Als ein Zeichen, dass ein Umdenken eingesetzt habe, wertete Abdulkerim Şimşek die Platzbenennung. Er stellte aber zugleich die Frage, wieso dafür erst Menschen sterben mussten. Für ihn und seine Familie sei der Tod des Vaters jedenfalls das "größtmögliche Unglück" gewesen. "Ich vermisse ihn immer noch sehr!"

Kritik übte Abdulkerim Şimşek sowohl an der "fehlenden Professionalität" deutscher Sicherheitsbehörden als auch an den "festgefahrenen Vorurteilen" in der Gesellschaft. Zudem sei es sehr belastend gewesen, all die Jahre bis zur Selbstenttarnung des NSU als Täter verdächtigt worden zu sein: "Als wären wir daran Schuld, dass mein Vater tot war."

Rund 60 Menschen sind zur Einweihung gekommen.

Rund 60 Menschen sind zur Einweihung gekommen. © Max Söllner, NNZ

"Der Name Enver Şimşek wird immer mit der Geschichte unserer Stadt verbunden sein", sagte Oberbürgermeister Marcus König (CSU) in seiner Rede. Er nannte das Urteil im NSU-Prozess ein "deutliches Zeichen gegen Rechtsextremismus". Für Abdulkerim Şimşek hingegen sei der Prozess eine "schweren Enttäuschung" gewesen.

Zweiter Untersuchungsausschuss gefordert

Neben König wies auch Stephan Doll von der Allianz gegen Rechtsextremismus darauf hin, dass die Aufarbeitung des NSU noch nicht abgeschlossen sei. Doll dankte daher dem Stadtrat, dass dieser sich jüngst für einen zweiten bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss ausgesprochen habe: "Die Opfer und ihre Familien haben es verdient, dass alles aufgeklärt wird." Auch die SPD-Fraktion im Stadtrat erneuerte anlässlich der Platzeinweihung ihre Forderung nach einem erneuten Ausschuss. Der türkische Generalkonsul Serdar Deniz betonte "das natürliche Recht der türkischen Gemeinschaft, ein sicheres und friedliches Leben zu fordern."

Die Fototafel in Erinnerung an Enver Şimşek.

Die Fototafel in Erinnerung an Enver Şimşek. © Max Söllner, NNZ

Nach Şimşeks Ermordung erschoss der NSU bis 2007 insgesamt neun weitere Menschen - in Nürnberg auch den Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru sowie den Imbissbetreiber Ismail Yaşar. Damit hat die Stadt bundesweit die meisten NSU-Opfer zu beklagen. Hinzu kommt ein Sprengstoffanschlag in der Scheurlstraße, der den Inhaber einer Bar schwer verletzte.

Kritik an städtischem Gedenken

In der Vergangenheit gab es wiederholt Kritik am Erinnern Nürnbergs an seine NSU-Opfer. So hatte der migrantische Verein "Junge Stimme" gemeinsam mit über 20 weiteren Gruppen vor einem Jahr die Benennungen von Straßen nach den NSU-Opfern und ein offensiveres städtisches Gedenken gefordert.

Vor wenigen Wochen beschloss der Stadtrat nicht nur den Enver-Şimşek-Platz, sondern auch Gedenktafeln an allen Tatorten sowie perspektivisch einen virtuellen Rundgang. Eine Umbenennung der Gyulaer Straße, an der Özüdoğru ermordert wurde, sowie der Scharrerstraße, an der die Terroristen Yaşar töteten, steht indes nicht bevor. Grund dafür ist laut König die wichtig Bedeutung der jeweils bestehenden Straßennamen.

Ein städtisches Mahnmal gibt es bereits am Kartäusertor, unweit der Straße der Menschenrechte. Das Gedenken an den einzelnen Tatorten aber haben bislang "engagierte Bürgerinnen und Bürger" vorangetrieben, wie es auf der Website der Stadt Nürnberg heißt. Am neuen Enver-Şimşek-Platz in Langwasser zum Beispiel machen schon lange Info- und Fototafeln auf den rassistischen Mord aufmerksam - angebracht von Kirchengemeinden sowie der antifaschistischen Gruppe "Das Schweigen durchbrechen".

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