Interview
Röttgen: Corona-Pandemie hätte es ohne China vielleicht nie gegeben
16.6.2021, 11:18 UhrDie westlich geprägten Demokratien sehen sich durch autoritäre politische Systeme - Beispiel China oder auch Russland - herausgefordert. Demokratische Wertvorstellungen, Menschenrechte, die Kontrolle der Regierung durch demokratisch gewählte Volksvertreter werden von autoritären Regierungen als Schwäche des Westens interpretiert.
Herr Dr. Röttgen, die Diagnose, wonach die "liberale Weltordnung" in der Krise sei,setzt voraus, dass es diese liberale Weltordnung überhaupt gibt. Ist diese in der Realität 30 Jahre nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" nicht nur eine Fiktion?
Norbert Röttgen: Nein. Auch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war die liberale Ordnung eine Ordnung des Westens. Die damalige Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes haben sie während des Kalten Krieges nicht akzeptiert und ein alternatives Modell angeboten. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schien es so, als hätte sich die liberale Ordnung allgemein durchgesetzt. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben dieser Ordnung einen freiheitlichen Sinn. Seit einigen Jahren werden zentrale Elemente dieser Ordnung, nämlich, dass sie auf gemeinsamen Regeln und Verträgen beruht, wieder herausgefordert - vor allem von China und Russland. Den liberalen Kern der Ordnung lehnen diese Staaten ab. Darum geht es nun: Gelingt es uns eine internationale Ordnung zu erhalten, die auf Regeln und Freiheit beruht oder wird sie abgelöst durch eine neue Ordnung, die auf Macht und Unfreiheit basiert.
Als sich die Sowjetunion auflöste, war der von ihr geführte Ostblock der Gegner des demokratischen Westens. Heute ist mit China eine autoritär regierte, staatskapitalistische Weltmacht entstanden, die wichtigsten islamisch geprägten Länder Afrikas und des Nahen Ostens werden autoritär regiert - und selbst im Westen sind autoritäre Regierungen Realität geworden, wenn man etwa die ehemalige US-Administration von Präsident Donald Trump als solche bezeichnen will. Ist die liberale Demokratie dabei, sukzessive als die Regierungsform des Westens abgelöst zu werden?
Röttgen: Nein. Wir sehen, dass auch unsere Gesellschaften anfällig sind für Populismus und autoritäre Tendenzen, wie wir sie bei Donald Trump erlebt haben. Aber als politisches System haben sich die USA als widerstandsfähig erwiesen. Die Gewaltenteilung hat funktioniert, bis hin zum Regierungswechsel. Gleichzeitig ist es richtig, dass international Demokratien in der Minderheit sind und von innen und außen unter Druck geraten. Wir brauchen also eine doppelte Strategie: Nach innen müssen wir unsere Gesellschaften zusammenhalten und unsere demokratischen Systeme stärken. Nach außen müssen wir für unsere freiheitlichen Werte eintreten, indem wir den Systemwettbewerb umfassend aufnehmen und an der Seite derer stehen, die für ihre Freiheit kämpfen. Unser System ist nach wie vor attraktiv, oder warum glauben Sie, wollen die Menschen nach Europa und in die USA auswandern und nicht nach China, Russland und Saudi Arabien?
Kennzeichen liberaler Demokratien sind die "Checks and Balances" der Macht, die parlamentarische Kontrolle der Regierung, die Gesetzgebung durch demokratisch gewählte Volksvertreter. Besteht nicht die Gefahr, dass selbst die Bürgerinnen und Bürger diese demokratischen Errungenschaften als Luxus betrachten, wenn der Eindruck entsteht, dass sich die Politik selbst lähmt oder statt schneller, eindeutiger Entscheidungen ungeliebte Formelkompromisse entstehen?
Röttgen: Wir leben in einer Zeit extremer Veränderungen, in der vieles in Frage gestellt wird. Das macht den Menschen Angst. Fragmentierung und Polarisierung der Gesellschaft nehmen zu. Populisten nutzen das für ihre Zwecke, was für Demokratien eine wirklich gefährliche Situation ist. Als Demokraten müssen wir dem gemeinsam entgegentreten, für gesellschaftlichen Ausgleich werben und immer wieder unter Beweis stellen, dass sich der demokratische Wettbewerb für die Menschen lohnt. Meine Erfahrung ist, dass die Bürgerinnen und Bürger es zu schätzen wissen, wenn wir engagiert und sichtbar um die besten Lösungen ringen.
Kommentar: Pandemie und perfekte Bürokratie passen nicht zusammen
Autoritär regierte Staaten - nehmen wir China oder auch Singapur - reklamieren für sich, die Corona-Pandemie mit schnellem harten Durchgreifen besser unter Kontrolle gebracht zu haben als etwa die Staaten der EU, die sowohl bei der Impfstoffbeschaffung als auch bei der konsequenten Eindämmung des Virus versagt hätten. Haben die liberalen Demokratien hier tatsächlich versagt?
Röttgen: Nein. Das fängt schon damit an, dass es womöglich gar keine Pandemie gegeben hätte, wenn das Virus nicht in China sondern in einem demokratischen Land zuerst ausgebrochen wäre. Es ist ein Wesensmerkmal von Chinas Autoritarismus, dass unliebsame Informationen aus Angst vor Strafe unterdrückt werden. Die Vertuschung in der Anfangsphase hatte zur Folge, dass andere Länder erst handeln konnten, als es schon zu spät war. Wenn wir uns anschauen, wie Deutschland in der ersten Welle gehandelt hat, dann war das vorbildlich. Die Bundesregierung hat schnell und konsequent reagiert und ihre Maßnahmen den Bürgern klar kommuniziert. Jeder wusste: Es ist jetzt ernst und deshalb müssen wir unser Verhalten ändern. Danach sind Fehler gemacht worden, das stimmt und damit müssen wir uns kritisch auseinandersetzen. Aber auch das unterscheidet uns von anderen Systemen: Wir sind zur kritischen Reflexion und Aufarbeitung von Fehlern in der Lage. Niemand weiß doch wirklich, wie viele Menschen in China oder in anderen autoritären Staaten erkrankt und gestorben sind, weil es hier keine Transparenz gibt.
Wie müsste die EU politisch organisiert sein, um schneller und effizienter entscheiden zu können?
Röttgen: Ich bin durch und durch Europäer und würde mir wünschen, dass wir außen- und sicherheitspolitisch viel stärker zusammenarbeiten. Aber mehr Vergemeinschaftung ist nicht immer automatisch besser. In der Gesundheitspolitik hat die EU keine Kompetenzen. Ihr fehlen die Erfahrung und die Strukturen. Anstatt jede Krise dafür zu nutzen, mehr Kompetenzen auf die EU zu übertragen, sollten wir uns fragen, ob uns das in der Sache weiterbringt oder ob die Nationalstaaten das nicht alleine besser regeln könnten.
Manche Beobachter sprechen davon, dass China die westlich geprägten Demokratien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch herausfordere. Wenn das so ist - wer wird gewinnen?
Röttgen: China hält das eigene System, basierend auf Autoritarismus und Staatsinterventionismus, gegenüber unseren Demokratien und Marktwirtschaften für überlegen und exportiert sein Modell in die Welt. Diesen Wettbewerb, der von China ausgeht und vor allem technologisch ausgetragen wird, müssen wir umfassend annehmen und China aus einer Position der Stärke begegnen. Das werden wir nicht alleine schaffen, sondern nur als Teil der EU und der transatlantischen Gemeinschaft. Wenn uns das gelingt, haben wir die besten Voraussetzungen, um unsere Werte und Interessen zu verteidigen und auch weiter mit China zu kooperieren.
Zur Person: Dr. Norbert Röttgen (CDU) gehört seit 1994 dem Bundestag an. Der promovierte Jurist war rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2005 übernahm Röttgen den Posten des 1. Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ehe er im Oktober 2009 zum Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit berufen wurde. Seit Januar 2014 ist Röttgen Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags.
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