Lieferkettengesetz: Droht deutschen Konzernen spektakuläre Klagewelle?

21.1.2021, 11:37 Uhr
Eine Textilfabrik in Bangladesch: Noch immer werden in Entwicklungsländern Mensch und Natur für die Produktion von Gütern für die westliche Welt ausgebeutet.

© imago stock&people, NN Eine Textilfabrik in Bangladesch: Noch immer werden in Entwicklungsländern Mensch und Natur für die Produktion von Gütern für die westliche Welt ausgebeutet.

Der kleine Moise gegen den Koloss VW. Der größte Autobauer der Welt, von einem Jungen aus dem Kongo, viertes Kind mittelloser Eltern, verklagt wegen Ausbeutung und Kinderarbeit. Und das alles vor einem deutschen Richter?

Noch ist das ein fiktives Szenario, doch womöglich nicht mehr lange. Hoffen die einen, zittern die anderen.

Der Preis des westlichen Wohlstands

Es hat sich herumgesprochen, dass der Wohlstand der westlichen Welt einen Preis hat, den häufig nicht wir zahlen. Sondern die schwächsten Glieder im globalen Wirtschaftskreislauf: Menschen in Entwicklungsländern, die unter beschämenden Umständen Erze aus der Erde klauben, T-Shirts nähen, Plastik montieren. Für uns.

Bald zehn Jahre alt ist eine Erklärung der Vereinten Nationen (UN), dass gerade auch in der Wirtschaft die Menschenrechte zu achten sind. Trotzdem sind noch immer 77 Millionen Mädchen und Jungen - also fast so viele Kinder, wie Deutschland Einwohner hat - laut Unicef aktuell weltweit von ausbeuterischer Arbeit betroffen. Nur als Beispiel. Ihre eigenen Regierungen sind zu schwach, sie zu schützen, alle anderen schauen weg.


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Doch das ändert sich gerade. „Lieferkettengesetz“ heißt das Schlagwort. Die Idee ist, Unternehmen für Menschenrechtsverstöße und Umweltzerstörung stärker in die Verantwortung zu nehmen, je nach Ausgestaltung bis hin zu einem Klagerecht möglicher Opfer. Und zwar nicht nur für das, was in den eigenen Werken geschieht, sondern über alle Vorprodukte hinweg.

Frankreich und Großbritannien haben schon Vorschriften

In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gibt es bereits erste Regelungen unterschiedlicher Schärfe dieser Art. In Deutschland vereinbarten Union und SPD vor vier Jahren, es zunächst mit Freiwilligkeit zu versuchen. Nun liegt die Auswertung vor, was das gebracht hat.

Trotz zweimaliger Fristverlängerung beantworteten nur etwa 400 der über 3000 angeschriebenen Unternehmen überhaupt den Fragebogen. Von diesen wiederum erfüllten nicht einmal jedes Fünfte die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Weil sie das nicht glauben wollte, setzte die deutsche Politik sogar noch einmal nach - wesentlich besser wurde das Ergebnis trotzdem nicht.

„Beschließen wir ein Lieferkettengesetz, das Ausbeutung von Mensch und Natur in Entwicklungsländern beendet“, drängt deshalb Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und weiß dabei SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil an seiner Seite. Ebenso wie 75 Prozent der Bundesbürger, so eine Umfrage von Infrage-Dimap vom vergangenen September.

CDU-Minister kämpft gegen CSU-Minister

In den Reihen der verbliebenen 25 Prozent allerdings kämpft Wirtschaftsminister Peter Altmaier, angefeuert von den meisten deutschen Wirtschaftsverbänden. Der CDU-Politiker will weiter abwarten und wenn überhaupt, dann höchstens sehr sanfte Vorschriften für die Unternehmen.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem Handelsverband HDE, dem Arbeitgeber-Spitzenverband BDA und dem Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnen in einem gemeinsamen Positionspapier vor nationalen Sonderwegen und einseitigen Belastungen für die Wirtschaft. Erst recht in Zeiten von Corona.

Würde sich ein deutsches Gesetz an UN-Leitprinzipien orientieren, es würde die Unternehmen über ihre gesamte Lieferkette hinweg auf die Einhaltung der Internationalen Menschenrechtscharta und die Richtlinien der UN-Arbeitsorganisation ILO verpflichten. Und zwar nicht nur als formale Erklärung in der Jahresbilanz. Sondern wirksam einklagbar für die Betroffenen.

Klagerecht für Betroffene in Europa?

Kinder, die in westafrikanischen Kakaoplantagen so hart arbeiten müssen, dass sie weder Kraft noch Zeit für die Schule haben oder Familien in Südostasien, die von den Abwässer der benachbarten Textilfabrik voller Chemikalien vergiftet werden: Sie könnten die ursprünglichen westlichen Auftraggeber vor Gericht zerren. Ob vor Ort oder sogar in Europa und den USA, könnte das Gesetz ebenfalls definieren.

Es steht also für alle Parteien eine Menge auf dem Spiel. Und auch die Befürworter in der Politik wie die Minister Müller und Heil können auf die Unterstützung von Lobbyisten zählen. Allen voran die Initiative Lieferkettengesetz, hinter der Akteure wie Greenpeace, Inkota, das Forum Fairer Handel oder auch Verdi, der DGB und Brot für die Welt stehen. "Der globale Wirtschaftskreislauf darf nicht Ergebnis von Sklavenarbeit, Kinderarbeit und Hungerlöhnen in den Lieferketten sein", sagt Verdi-Chef Frank Werneke.

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Druck macht auch der Verbraucherzentrale Bundesverband, der ein Gesetz fordert, das höchstens kleinen und mittelständischen Betrieben Erleichterungen einräumt. Ebenso dabei sind über 70 Ökonomen, die in einem öffentlichen Schreiben ein "vielfaches Markt- und Politikversagen" beklagen, das gestoppt gehöre. Unter den Unterzeichnern ist auch Frank Ebinger von der TH Nürnberg.


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Selbst in der Wirtschaft ist das Bild keineswegs so eindeutig gegen mehr Verantwortung in der Lieferkette, wie es der Aufschrei ihrer Verbände vermuten ließe. Über 60 Unternehmen, darunter Größen wie Nestlé, Tchibo oder Kik, haben sogar eine Erklärung unterschrieben, in der sie sich für entsprechende Gesetzesinitiativen aussprechen. „Das zeigt, dass die Verbände mit ihrer Fundamentalopposition nicht die ganze Wirtschaft repräsentieren“, so Johannes Schorling von der Entwicklungsorganisation Inkota.

Nachhaltigkeit ein lohnendes Geschäft

Was keineswegs überraschend sei. „Nachhaltigkeit liegt im Trend. Es gibt immer mehr Konsumenten, die bereit sind, dafür mehr Geld auszugeben. Und es ist gut fürs Image“, glaubt Schorling. Ähnlich sieht das Benjamin Stephan von Greenpeace: „Viele Unternehmen holen sich daher schon regelmäßig Rat bei Nicht-Regierungsorganisationen.“

Um die eigene Lieferkette besser kontrollieren zu können, kauft etwa BMW den Rohstoff Kobalt inzwischen bei den Minenbetreibern direkt ein und stellt ihn dann seinen Zulieferern zur Verfügung. Der Kongo als Herkunftsland wird nach Möglichkeit gemieden, die Bayern setzen vor allem auf Australien. Rivale VW erklärt derweil, bei der künftigen Auftragsvergabe seien die Lieferanten, deren Produkte die beste CO2-Bilanz hätten, die Gewinner.


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Ankündigungen wie diese häufen sich quer durch die Branchen. Ihre Beobachter bleiben zwar kritisch. Inkota-Experte Schorling beispielsweise ist nicht ganz glücklich, dass Ritter Sport (Schorling: „An vielen Stellen eigentlich ein Vorreiter“) mit dem Siegel der Rainforest Alliance kooperiert, das nicht sonderlich streng sei. Und VW musste sich kürzlich von Greenpeace vorrechnen lassen, als Ausgleich für angeblich unvermeidbare CO2-Emissionen in der Elektroauto-Produktion Umweltprojekte zu finanzieren, die es auch sonst gegeben hätte, also gar keinen Mehrwert für die Natur hätten.

Inkota-Experte: "Das ist viel PR. Aber nicht nur"

Das grundsätzliche Bemühen aber erkennen auch die Kritiker an. Schorling: „Da ist bei den Unternehmen natürlich viel PR dabei. Aber nicht nur.“ So wie mittlerweile selbst die Verbände etwas vorsichtiger geworden sind, und sich nicht mehr unter allen Umständen gegen ein Gesetz aussprechen. Der Kompromiss, mit dem alle Seiten leben könnten, wäre wohl eine Lösung auf EU-Ebene.

Nur ist derzeit noch unklarer, wann eine solche realistisch ist. Was die Gegner natürlich weniger schlimm finden als die Befürworter. Entwicklungsminister Müller will sich nicht länger hinhalten lassen und drängt auf ein Gesetz noch in dieser Legislaturperiode, konform zum Koalitionsvertrag. Der CSU-Politiker: „Die Lobbyvertreter der Wirtschaft wollen ein Gesetz - gut! Aber sie wollen ein Gesetz ohne Folgen, ohne Haftung, ohne Wirkung.“ Und nein, das gehe nicht.