Nachhaltige Wirtschaft
"Ein gutes Leben für alle Menschen"
27.8.2021, 12:00 UhrWer übrig bleibt, hat Pech gehabt – "wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat". "Dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde." Was dem Unglücklichen bleibt? "Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen."
Der Satz ist alt, sehr alt, geschrieben hat ihn der britische National-Ökonom Robert Malthus vor über 200 Jahren. Er war nicht allein mit dieser Meinung, es waren Leitsätze. Malthus war Inhaber des ersten Lehrstuhls für politische Ökonomie in England. Niemand würde das heute noch so formulieren, nicht wörtlich.
"Diese Wirtschaft tötet"
Es gibt einen anderen Satz. "Diese Wirtschaft tötet", das äußerte der Papst. Er meinte nicht die Ideen von Malthus und seinen Nachfolgern, Franziskus sprach vom neoliberalen Markt der Gegenwart.
"In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wehrlos gegenüber den Interessen des vergöttlichten Marktes", heißt es in seinem Lehrschreiben von 2013 weiter. Selten dürfte ein Papst so viel Applaus erhalten haben, und selten einmal in diesem Jahrhundert war die katholische Kirche so nahe am Empfinden vieler Menschen.
Alles im Dienst des Profits
Der Neoliberalismus, der das möglichst freie Spiel des Marktes und die stetige Gewinnmaximierung propagiert, ist das einzige Wirtschaftssystem, das in westlichen Industrienationen aufgewachsene Menschen diesseits der Lebensmitte kennengelernt haben.
Alles im Dienst des Profits: Worte wie "Humankapital" haben sich darüber etabliert, ohne dass der Zynismus dahinter noch auffällt. Private Gesundheitskonzerne betreiben Krankenhäuser, die Forschung ist über Drittmittel vom Markt abhängig. Sogar Kunst und Kultur werden auf diesem Markt gehandelt.
Ungleich verteilter Reichtum
Darüber ist die Wirtschaft gewachsen, der Wohlstand auch, aber nicht mehr für alle. Immer mehr Reichtum verteilt sich immer ungleicher, hierzulande gehören dem reichsten Zehntel der Bevölkerung etwa zwei Drittel des gesamten Vermögens. Die Zahl der Millionäre steigt Jahr für Jahr, die Zahl der im Niedriglohn-Sektor beschäftigten Menschen ebenfalls. Immer mehr für immer weniger Menschen, das hat auch Haltungen verändert. Der Egoismus ist salonfähig geworden. Ich zuerst – ist das nicht die Botschaft? Und wer übrig bleibt, hat Pech gehabt?
Florian Henle hat es ein bisschen provokativ formuliert. Die "arschlochfreie Zone", sagte der Unternehmer, finde sich in einem alternativen Wirtschaftssystem. So, das erzählte der Gründer des Münchner Energieversorgers Polarstern in einer Videobotschaft, erkläre er seiner Mutter, was Gemeinwohl-Ökonomie ist.
"Hätte man den Menschen einst gesagt, dass man ein Arschloch sein muss, um Erfolg zu haben, hätten es die meisten nicht geglaubt", sagt Günter Grzega. Er spricht sonst nicht so, auch er meint das natürlich nicht wörtlich und erst recht nicht in irgendeiner Weise persönlich. Günter Grzega aus Treuchtlingen ist ein freundlicher, besonnener Mann, er war Vorstandsvorsitzender der Münchner Sparda-Bank, der größten Genossenschaftsbank in Bayern.
Für alle Menschen
Grzega hat sich und die Bank der Gemeinwohl-Ökonomie verpflichtet, er ist heute, als Pensionär, einer der bekanntesten Botschafter der Idee, die man etwas verkürzt so darstellen kann: Nicht eine stetige Vermehrung von Geldkapital, nicht ein ständig steigendes Bruttoinlandsprodukt ist der Maßstab für Erfolg, sondern, so steht es im Programm der Gemeinwohl-Ökonomie, "ein gutes Leben für alle Menschen".
Dafür stehen seit zehn Jahren Wissenschaftler und Praktiker im engen Austausch, es ist kein theoretisches, sondern ein gelebtes Modell. Aber natürlich, sagt Günter Grzega lächelnd, mag es nach einer naiven Illusion geklungen haben, "man hat mich einen Spinner und Träumer genannt". Zu seinen ersten Vorträgen kamen manchmal nur eine Handvoll Besucher.
Die gesamte Bewegung galt als romantische Utopie, als sie sich vor elf Jahren in Österreich gründete. Christian Felber, in Salzburg geborener Hochschullehrer und Aktivist, fasste das Programm damals in einem noch wenig beachteten Buch zusammen – im April 2021 stand es erstmals auf der Bestsellerliste des Spiegel. Heute, erzählt Günter Grzega, sind die Säle voll, wenn er referiert.
Am "Kipp-Punkt"?
Wann ist es genug? Genug mit dem Wachstum, mit dem Egoismus? Diese Fragen beschäftigen immer mehr Menschen. Die Finanzkrise, die Klimakrise, die Corona-Pandemie, soziale Spannungen: Die Zweifel an der Welt, so wie sie ist, wachsen, oft sind es nur gefühlte, vage Zweifel. Aber vielleicht, sagt Günter Grzega, stehe man gerade an einem "Kipp-Punkt", an der Schwelle eines Wirtschafts- und Wertewandels.
"Eigentlich banal" nennt er die drei wichtigsten Prinzipien der Gemeinwohl-Öknonomie: Das wirtschaftliche Handeln dient den Menschen, der Umwelt und dem Frieden. Im Grunde steht es so oder so ähnlich in vielen Verfassungen, in der Verfassung des Freistaats Bayern auch. "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl", heißt es in Artikel 151. "Eigentum verpflichtet", steht in Artikel 14 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: "Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
Die Gemeinwohl-Ökonomie versucht, das Wohl zu definieren, in der Gemeinwohl-Bilanz wird, nach einem Punktesystem zertifiziert und veröffentlicht, wie ökologische und soziale Aspekte das Handeln bestimmen: Umweltschutz, faire Löhne, Mitbestimmung, Transparenz.
Das Votum der Kunden
"Bestimmt nicht schwammiger als Finanzzahlen", sagt Grzega, seien die ermittelten Werte – "und ein paar Punkte reichen, es ist ein Projekt, es ist nie zu Ende, der Weg ist das Ziel". Als die Sparda-Bank München vor elf Jahren den Weg einschlug, war es – auch – ein Risiko. "Wären uns die Kunden in Scharen davongelaufen, hätten wir sagen müssen: Okay, wir sind zu früh dran", sagt Grzega, der es im Rückblick "erstaunlich" findet, welchen Erfolg die Idee hatte. Heute kommen 25 Prozent der Neukunden wegen der Ausrichtung auf das Gemeinwohl – vielleicht, überlegt Grzega, tritt das Ich den Rückzug an.
Und man könnte das Ich darin bestärken. Es gibt ja das, was man eine kognitive Dissonanz nennt. Kein Mensch ist für Kinderarbeit und Massentierhaltung, aber so lange unter solchen Bedingungen hergestellte Produkte billig sind, kaufen sie die meisten Menschen trotzdem – und handeln gegen ihre Überzeugung.
Gemeinwohl als Anreiz
Eine möglichst billige und rücksichtslose Produktion als Wettbewerbsvorteil, ein ökologisches und soziales Bewusstsein als Wettbewerbsnachteil: Das, hoffen die Vertreter der Gemeinwohl-Ökonomie, könnte sich umdrehen. Eine positive Gemeinwohl-Bilanz soll ein immer wichtigerer Anreiz werden – für Privatkunden, für öffentliche Auftraggeber. Sie könnte über die Vergabe von Krediten und Fördergelder mitentscheiden, als Instrument des Wettbewerbs. Und eine Wirtschaftspolitik, die über entsprechende Anreize eine am Gemeinwohl orientierte Produktion fördert, würde mithelfen, deren Produkte preisgünstig zu machen, das ist die Theorie.
"Es geht ja nicht darum, die Marktwirtschaft abzuschaffen", sagt Günter Grzega. Unternehmen müssen Gewinne erzielen, nur sollten davon nicht Kapitalgeber profitieren, sondern die Unternehmen selbst – und Arbeitsplätze, Löhne, die Altersversorgung sichern. Aus einer Graswurzelbewegung, gestartet mit 15 Unternehmen, ist eine wirtschaftliche Reformbewegung geworden – mit in Europa über 2000 beteiligten Unternehmen, Kommunen, Hochschulen und weiteren Institutionen, 600 davon in Deutschland.
Mit Ausnahme Asiens stößt das Projekt inzwischen weltweit auf Interesse, "phänomenal" nennt das Günter Grzega, "aber natürlich liegt noch ein weiter Weg vor uns". Die großen Marktführer halten sich zurück, Grzega kann das verstehen, "ein CEO läuft ja Gefahr, gefeuert zu werden, wenn er nicht primär an die Shareholder denkt, an die Aktionäre" – an den größtmöglichen monetären Gewinn.
Ein neuer Wettbewerb
Aber dass sich längst auch Giganten für ihr Image zumindest einen ökologischen und sozialen Anstrich geben müssen, könnte ein Indiz für einen Wertewandel sein. Die Gemeinwohl-Ökonomie, sagt Grzega, sei "ein demokratischer Prozess" mit globalen Zielen, sie setzt auf internationale Kooperation und eine neue Art von Wettbewerb. Konkurrenz darf das Geschäft beleben: Konkurrenz um die besten Bedingungen für eine faire, nachhaltige Wirtschaft.
Länder könnten ihre Gemeinwohl-Bilanzen gegenseitig anerkennen, wer dem (globalen) Gemeinwohl schadet, bezahlt es mit Zöllen oder einem Einfuhr-Stopp. Über all das entscheiden die Menschen in ihren Wünschen und mit ihrem Handeln: Die Demokratie regelt den Markt, nicht umgekehrt. Die, noch ein zynisches Wort, "marktgerechte Demokratie" hat erst der Neoliberalismus (durchaus erfolgreich) postuliert.
Günter Grzega ist weder Eiferer noch Prophet, er ist nur überzeugt davon, dass die neoliberale Ideologie ein Irrweg von vielen war, dass ein möglichst breites Umdenken stattfinden muss. "Wenn es dann etwas Besseres als die Gemeinwohl-Ökonomie gibt, selbstverständlich gern", sagt er und besteht darauf, den Kaffee zu bezahlen: "Ich bin ja der Banker."
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen