Vorgehen wirft Fragen auf
Tödliche Polizeischüsse in Nürnberg und in Lauf: Experte erklärt, warum Messer so gefährlich sind
22.11.2024, 05:00 UhrAnfang November hat ein Polizist einen Mann in seiner Wohnung in Nürnberg erschossen, nachdem dieser eine Frau mit einem Messer bedroht hatte. Viel ist zu den Hintergründen noch nicht bekannt. Die Ermittlungen laufen, sagt Heike Klotzbücher von der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. Daher könne noch wenig bekannt gegeben werden.
Die Obduktion wurde allerdings bereits durchgeführt. Sie bestätigte, dass der Mann durch die Schüsse getötet wurde. Offenbar waren es drei Schüsse, die ihn getroffen haben.
Damit wurde zum zweiten Mal in nur wenigen Monaten eine Person in der Region von der Polizei erschossen. Im Sommer in Lauf, jetzt in Nürnberg. In beiden Fällen hatte der Mann ein Messer, in beiden Fällen wurde er von der Polizei tödlich getroffen. Die genaue Situation des Falls in Lauf ist auch nach über vier Monaten unklar. Am Bahnhof in Lauf links der Pegnitz soll ein 34-Jähriger an der Tür eines Polizeiautos gerüttelt haben. Zu diesem Zeitpunkt war das Messer laut Angaben der Polizei offenbar noch nicht zu erkennen gewesen. Als eine Beamtin und ihre zwei Kollegen ausstiegen, soll der Mann sie mit einem Messer angegriffen haben. Ein Schuss aus der Waffe der Polizistin traf ihn in den Bauch und verletzte ihn tödlich.
Dieses Vorgehen der Beamtinnen und Beamten traf in der öffentlichen Wahrnehmung auf Unverständnis. Besonders der Fall in Lauf polarisierte, es gab eine Mahnwache für Mohammad, den Mann, der im Juni von der Polizei erschossen wurde. Seine Familie ist schockiert. Warum musste der Mann sterben? Warum hat man nicht auf ein Bein geschossen? War das Nutzen der Schusswaffe wirklich nötig?
"Das ist alles nicht so einfach", sagt Fürther Experte Florian Lahner. Er trainiert seit 40 Jahren Kampfkunst, Selbstverteidigung und Einsatztechniken und gibt Spezialtrainingseinheiten fürs SEK. "Wenn ich die Wahl habe, auf drei Meter einen Kontrahenten mit Messer oder mit Pistole mir gegenüber zu haben, dann bitte immer den mit Pistole." Eine Wahl, die vielleicht verwirrt, schließlich wirkt eine Schusswaffe wie das deutlich finalere Mittel, um zu töten.
Messer als gefährlichste Waffe
Für Polizistinnen und Polizisten sind Messer weit vor Schusswaffen die gefährlichste Waffe überhaupt, sagt Lahner. Auf lange Distanz sähe das anders aus, Beamtinnen und Beamte arbeiten aber meistens in einer gewissen Nähe zu den Menschen. Messer seien deswegen auch so gefährlich, weil sie sehr leicht sehr viel Schaden anrichten können. Man brauche wenig Kraft, um mit dem Messer tief in den Körper einzudringen. So könnten schnell wichtige Organe erreicht werden. Durch die geringe Schmerzreaktion und der glatte Einstich werde eine Reaktion des Körpers außerdem erst spät ausgelöst. Oft blute die Wunde nach außen nicht stark, könne aber nach innen ausbluten. Solche Wunden seien präklinisch, also noch vor dem Krankenhaus, sehr schwer zu behandeln.
Doch selbst wenn die Klinge nicht weit in den Körper eindringt, könne sie viel bewirken, betont Lahner. "Ein Schnitt am inneren Unterarm kann zu einem sofortigen Funktionsausfall führen." Das heißt, in dem Fall könne die Faust nicht mehr geballt und nichts mehr gegriffen werden. Ähnliches gilt für einen Schnitt über dem Knie, der das Beinheben unmöglich macht. "Das ist für einen Polizisten im Einsatz natürlich sehr einschränkend. Ein popeliger Schnitt kann also enorme Konsequenzen haben."
Wenn eine Person also ein Messer hat und das gegen Beamtinnen und Beamte oder gegen Dritte richtet, ist oft wenig Zeit für eine Reaktion. Grundsätzlich sei es beim Umgang mit einer Person mit Messer immer gut, Distanz zu schaffen. Das koste aber Zeit und sei in geschlossenen Räumen oft auch nur sehr schwer möglich, sagt Lahner. Eine weitere Möglichkeit sei es, Hindernisse wie Tische oder ähnliches zwischen sich und den Angreifer oder die Angreiferin zu bringen. Das gilt aber natürlich auch nur für die Situation, in der die Person Polizistinnen und Polizisten und nicht Dritte angeht.
"Kein Alltag für die Polizei"
Ein Beamter oder eine Beamtin braucht laut einer Studie, etwa 1,5 Sekunden, um die Waffe zu ziehen und zu schießen, berichtet Lahner. Eine Person mit Messer könne in der gleichen Zeit etwa 6,5 Meter überwinden. Ein normaler Mensch, der mit dem Messer nicht geübt ist, könne in der Sekunde etwa drei bis vier Schnitte verursachen. Wie diese Situation laufen könnte, sei also allen klar.
"Das ist auch für Polizisten kein Alltag", sagt Lahner. Für sie komme in der Situation viel zusammen. Das Messer müsse erkannt, der Abstand eingeschätzt, und die Hintergrundgefährdung geprüft werden. Schließlich müsse im Voraus geprüft werden, ob eine Schussabgabe überhaupt möglich ist. Die Kugel kann das Ziel verfehlen oder hindurchtreten. Wenn sich Menschen im Hintergrund aufhalten, wären die dann in Gefahr.
Schon das Abwägen, ob geschossen werden sollte und kann, sei für Polizistinnen und Polizisten schwierig. Auch der Schuss selbst sei nicht so leicht, wie Laien oft denken. Unter Stress verhänge sich der Blick aber so, dass dreidimensionales Sehen nicht mehr möglich ist. Zielen werde so noch schwerer. "Instinktiv schießt man dann auf die größtmögliche Fläche, also den Oberkörper", so Lahner. Ein sich unregelmäßig bewegendes Bein einer Person zu treffen, schätzt er als unrealistisch ein.
Der Polizist oder die Polizistin habe in der Situation keine Zeit mehr, zu analysieren. Viele würden so lange schießen, bis es klickt, also das Magazin leer ist. Lahner betont auch, dass derartige Angriffe auch für Beamtinnen und Beamten eher außergewöhnlich seien. "Sobald eine Person sie angreift, sind sie nicht mehr Polizist, sondern ein angegriffener Mensch, der Todesangst hat", erklärt Lahner.
Menschen, die zum Messer greifen, seien außerdem häufig in einer psychischen Ausnahmesituation. Sollte es einem Polizisten oder einer Polizistin tatsächlich gelingen, das Bein oder den Arm einer Person zu treffen, heiße das nicht mal, dass es die Person wirklich aufhalte. In solchen Ausnahmezuständen würden Menschen Schmerzen manchmal gar nicht wahrnehmen. Der Schuss müsse also Strukturen zerstören, die Laufen oder Greifen physisch unmöglich machen.
Experte kritisiert schlechte Ausrüstung und zu wenig Training
Insgesamt seien solche Situationen unglaublich schwer zu trainieren und enden meist in einer Pattsituation, in der beide getroffen werden. "Wir stellen solche Situationen schon nach, aber um das sinnvoll trainieren zu können, muss man größere Kaliber auffahren." Klar ist für Lahner, dass die Polizei grundsätzlich zu wenig trainiert. "Es muss alles trainiert werden, wir brauchen Profis auf ihrem Gebiet." Das sei aber alles eine Frage des Geldes und der Personaldecke. Und dementsprechend sei es auch utopisch, so zu trainieren, dass alle perfekt auf eine solche Situation vorbereitet sind.
Alternativen seien zusätzlich rar, sagt Lahner. "Der Einsatzstock ist dazu da, auf großer Reichweite zu treffen, hindert den anderen aber nicht, diese Reichweite zu unterlaufen." Das Pfefferspray sei gut, um eine Maßnahme durchzusetzen, sei meist aber nur unangenehm und halte jemanden nicht auf. Wichtig ist laut Lahner insgesamt, dass die Polizistinnen und Polizisten mit besserer und praktikabler Schutzausrüstung ausgestattet werden.
War der Waffen-Einsatz gerechtfertigt? Ermittlungen laufen
Inwieweit der Einsatz der Schusswaffe in den Fällen in Lauf und Nürnberg gerechtfertigt war, ermittelt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth aktuell. Im Nürnberger Fall wird das noch eine Weile dauern, im Fall aus Lauf werden in Kürze Ergebnisse erwartet.
Insgesamt ist der Schusswaffengebrauch der Polizei allerdings gestiegen. Schon jetzt wurden nach einer Auswertung von Polizeiberichten durch die Deutsche Presse-Agentur in diesem Jahr bereits mehr Menschen durch die Polizei erschossen als in den Jahren davor. Bundesweit waren es seit Januar 17. Laut einer Statistik der Fachzeitschrift "Bürgerrechte & Polizei" war die Zahl an Menschen, die von der Polizei getötet wurden, zuletzt 1999 so hoch wie in diesem Jahr.