Roman für einen Nachmittag
Zwei Leben und eine vergebene Chance: „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ - Buchtipp
12.04.2025, 08:00 Uhr
Romane mit vielen hundert Seiten Umfang haben durchaus etwas für sich. Die Handlung kann viele spannende Wendungen haben und sich über einen großen Zeitraum erstrecken. Außerdem gibt es viel Gelegenheit, den Figuren Authentizität und Tiefe zu verleihen. Umso beeindruckender, dass Ernest van der Kwast das auf rund 100 Seiten fertigbringt und noch dazu einen Zeitraum von 60 Jahren behandelt.
„Fünf Viertelstunden bis zum Meer“: Das ist die Handlung
Im Juli 1945 gibt es noch keine Bikinis. Für die beiden Brüder Ezio und Alberto aber dennoch kein Grund, sich nicht an den Strand zu begeben, um unauffällig junge Frauen zu begaffen. Doch dann taucht plötzlich eine ungewöhnliche Aussicht aus dem Meer auf: Giovanna. In einem Zweiteiler. So etwas haben die beiden noch nie gesehen. Spontan springt Ezio auf und rennt über den halben Strand auf Giovanna zu. Bei ihr angekommen, bekommt er nach langem Zögern nur einen Satz heraus: „Da ich nun schon mal hier bin: Darf ich dich küssen?“
Es entwickelt sich eine Sommerromanze zwischen den beiden, die allerdings nur bis zum Ende des Sommers andauern wird. Denn Giovanna liebt die Freiheit und möchte sich nicht an einen Mann binden. Vergrämt und mit der eigenen Familie zerstritten, verlässt Ezio seine Heimat im Süden Italiens und lässt sich im Norden des Landes, in Südtirol, nieder und lebt fortan als Apfelpflücker.
Wir spulen 60 Jahre vor. Ezio hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt. Er lebt alleine im gleichen Dorf, in dem er die letzten Jahrzehnte verbracht hatte. Abgesehen von kurzen Affären hatte er keine Beziehungen, dementsprechend keine Kinder. Ezio ist 84 Jahre alt, seine Freunde sterben langsam dahin. Da erreicht ihn ein Brief aus seiner Heimat. Nach Jahrzehnten die erste Nachricht von Giovanna. Endlich kann sie ihm ihre Liebe gestehen, 60 Jahre nach dem gemeinsamen Sommer, in dem sie nur fünf Viertelstunden von ihrem Dorf bis an den Strand gebraucht hatten. 60 Jahre, nachdem sie zwei Heiratsanträge von Ezio abgelehnt hatte.
Ezio überlegt nicht lange. Er packt einen kleinen Koffer mit den nötigsten Sachen, schon am nächsten Morgen sitzt er im Zug Richtung Süden. Doch auf der Fahrt plagen ihn Sorgen. Wie wird Giovanna ihm begegnen? Schließlich ist er nicht mehr der junge Mann von einst. Wie wird es sein, die eine, große Liebe, nach einem ganzen Menschenleben wiederzusehen?
„Fünf Viertelstunden bis zum Meer“: Machogehabe oder sanfte Romantik?
Zugegeben, beim Lesen regt sich durchaus hin und wieder eine Augenbraue nach oben. Die beiden Brüder, die extra zum Gaffen an den Strand gehen, die schon sehr direkte Art, mit der Ezio seiner Giovanna den Hof macht, all das wirkt etwas gestrig. Aber dieser Teil des Romans spielt nun mal auch in einem lang vergangenen Gestern. Dass uns dieses Verhalten auch im Rückblick unangebracht erscheint, mag sein, doch die Souveränität, mit der Giovanna mit ihrem Verehrer (und auch späteren Verehrern) umgeht, macht es wieder wett. Auch dass Ezio mit diesem anfänglichen Machogehabe offenbar nur seine eigene Unsicherheit überspielt, wird schnell deutlich.
Dass wir die beiden Figuren beim Lesen trotz aller Makel als sympathisch empfinden, liegt an der schonungslosen Ehrlichkeit, mit der ihre Fehler geschildert werden. Ein ganzes Menschenleben verbringt man nun mal nicht, ohne den einen oder anderen Fehltritt zu machen.
Und so entwickelt die Geschichte eine ganz eigene, mal offensichtliche, mal subtile Romantik, erzählt mit einer wunderbar poetischen Melodie. Es ist eine Geschichte von der großen vergebenen Chance, die zwei Leben in eine völlig andere Richtung gelenkt hat, als es hätte sein können. Der Versuch, eine vergangene Entscheidung rückgängig zu machen. Und der Bereitschaft, auch im hohen Alter noch etwas zu versuchen.

"Fünf Viertelstunden bis zum Meer"
von Ernest van der Kwast
- übersetzt von Andreas Ecke
- 96 Seiten
- mare
- ISBN: 978-3-86648-205-0
- 10 Euro
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