Psychische Erkrankungen: Wenn Kiffen sämtliche Lebensträume zerstört

26.6.2020, 11:43 Uhr

Es ist ein Thema, das Schulen gern in den letzten Wochen des Unterrichtsjahres abhandeln. An Projekttagen widmet man sich dort unter anderem gern mal der "Sucht- und Drogenprävention".

Die meisten Lehrerinnen und Lehrer stehen dann vor einer ähnlichen Herausforderung wie ein katholischer Geistlicher bei der Eheberatung. Sie sprechen über eine Welt, die ihnen weitaus fremder ist als so manchem Halbwüchsigem, der vor ihnen sitzt.

Für viele Teenager gehört Kiffen zum Alltag

"Jugendliche spüren das und testen das aus", sagt Norbert Wittmann. Er sprich an solchen Projekttagen auch oft mit Schülerinnen und Schülern über das Thema Sucht. Mit einem entscheidenden Vorteil: Der 54-jährige Geschäftsführer der
Nürnberger Drogenhilfeeinrichtung Mudra bringt 26 Jahre Erfahrung aus der Szene mit.

Er kann authentische Geschichten erzählen. Ihm hören die Jugendlichen zu, weil sie spüren, dass er Ahnung von der Sache hat. Und zwar mehr als sie selbst. Und das will was heißen. Denn für nicht wenige der 14- oder 15 Jährigen gehört Kiffen zum Alltag.

Stefan war fleißig und strebsam, alle Wege schienen ihm offenzustehen – die Eltern Laura und Peter Müller (Namen geändert) sahen für ihren Sohn nach dem Abitur eine Karriere als Maschinenbauer voraus. "Er war ein Sonnenkind", erinnert sich Laura Müller.

Schizophrene Psychose durch Cannabis-Konsum

Doch vor zwei Jahren endet der Traum von einer unbeschwerten Zukunft: Der Achtklässler kommt nicht mehr regelmäßig zum Schlafen nach Hause, ist in der Schule auffällig und überdreht, wirkt teils bedrohlich. Bis es dem Rektor von Stefans Gymnasium zu viel wird: Er verweist den Jugendlichen von der Schule, und der damals 16-Jährige kommt erstmals in die Psychiatrie.

Die Diagnose ist ein Schock für die Eltern: schizophrene Psychose im Zusammenhang mit regelmäßigem Konsum von Cannabis. Ein Kraut, das gemeinhin als harmlos gilt, aber bei Jugendlichen irreversible Schäden anrichten und das Leben der Eltern auf den Kopf stellen kann. "Ich war verzweifelt", sagt Laura Müller, die wie ihr Mann nie zuvor mit dem Thema in Berührung gekommen war. Beide Eltern plagen seitdem Schuldgefühle. "Ich frage mich bis heute, was wir falsch gemacht haben: Waren wir zu streng, zu nachgiebig, zu wenig konsequent?", sagt die 54-Jährige.

Cannabis ist die am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutschland. Nach Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben zehn Prozent der Teenager und rund 40 Prozent der 18- bis 25-Jährigen schon mindestens einmal Cannabis geraucht. Männer konsumieren demnach häufiger als Frauen. Jeder zehnte männliche junge Erwachsene kifft regelmäßig.

Nach einer 2019 veröffentlichten europaweiten Fall-Kontroll-Studie ist die Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Störung bei täglichem Cannabis-Gebrauch dreimal, bei Konsum von besonders starkem Stoff fünfmal höher als bei Nicht-Konsumenten.


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Besonders gesundheitlich gefährdet sind junge Menschen. "Cannabis und andere Substanzen wirken sich schädlich auf die Hirnentwicklung aus", erklärt der Chef der Psychiatrie am Nürnberger Klinikum, Prof. Thomas Hillemacher. Je früher Jugendliche mit solchen Drogen in Kontakt kommen, desto massiver können die davongetragenen Schäden sein. Von chronischer Antriebslosigkeit und Motivationsmangel über Depressionen bis hin zu Aggressionsschüben, Halluzinationen, Verfolgungswahn und schweren Psychosen kann die Symptomatik reichen. Gefährdet sind vor allem junge Menschen, die schon vor dem Cannabis-Konsum psychische Auffälligkeiten hatten.

Der THC-Gehalt ist heute viel höher

Diese Risiken spielten in der Diskussion über Für und Wider der Legalisierung weicher Drogen wie Cannabis lange Zeit kaum eine Rolle. Zu erklären ist damit, dass das heute am Markt erhältliche Haschisch oder Marihuana wesentlich höhere Wirkstoffwerte aufweist als noch in den 70er oder 80er Jahren. Der Gehalt an THC (Tetrahydrocannabinol) hat sich in den neuen Cannabis-Züchtungen vervielfacht. Und die Teenager beziehen ihr Gras nicht mehr bei Bekannten, die es selbst anbauen. "Haupt-bezugsquelle ist das Internet", sagt Norbert Wittmann von der Mudra. Ein paar Jugendliche kaufen über das Darknet ein und verticken den Stoff weiter an ihre Freunde. Das Risiko, dabei erwischt zu werden, ist deutlich geringer als beim Drogenkauf auf der Straße. "Den gibt es deshalb auch kaum noch", sagt Wittmann.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU), will mit einer neuen Social-Media-Kampagne "Kiffen ist nicht cool" jungen Menschen die Gesundheitsrisiken des Stoffs vor Augen führen und "aktiv gegen die falschen Verharmlosungsslogans der Hanffreunde vorgehen." Innerhalb der Großen Koalition ist man sich allerdings nicht recht einig, wie der künftige Kurs in der Drogenpolitik aussehen soll. Die SPD möchte im Gegensatz zur Union den Cannabis-Konsum nicht mehr strafrechtlich verfolgen, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit ahnden. Und sie kann sich Modellprojekte zur legalen und regulierten Abgabe an Erwachsene vorstellen.

Ein Ende des Schwarzmarkts?

Befürworter sehen in einer solchen Teil-Legalisierung ein Ende des Schwarzmarktes. Mit einem kontrollierten legalen Markt könnten das Verbot, Marihuana an Minderjährige zu verkaufen, sowie die Reinheit des Stoffes wirksam überwacht werden, argumentierten etwa die Grünen im Bundestag in einem Gesetzentwurf für ein Cannabiskontroll-Gesetz. Die bisherige Prohibitionspolitik habe Jugendliche nicht vom Konsum abgehalten und bedeute für alle anderen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die persönliche Freiheit – auch im Vergleich zu Alkohol. Der Bundestag lehnte den Entwurf 2017 ab.

Norbert Wittmann glaubt, dass es relativ bald zu einer "kontrollierten Freigabe" kommen wird. An bestimmten Ausgabestellen – etwa in Apotheken – könnten Cannabis-Produkte dann an Erwachsene abgegeben werden. Nur wenn ein solcher legaler Markt geschaffen werde, könne auch Kontrolle – unter anderem über die Qualität des Stoffes – ausgeübt werden. In Ländern, die diesen Weg beschritten hätten, versichert der Mudra-Chef, sei die Zahl der Konsumenten langfristig nicht signifikant gestiegen. "Nach einer ersten Welle der Neugier legt sich das. Cannabis ist nirgends die neue Volksdroge geworden."


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Für besonders wichtig hält es Wittmann, eine eventuelle Teillegalisierung von Cannabis mit einer "großen Präventionsoffensive" zu kombinieren. Dabei reicht es dann freilich nicht, Kiffen als uncool zu ächten. Über alle verfügbaren Kanäle wünscht sich Wittmann vielmehr Aufklärung über die Wirkung und die Risiken von Cannabis. An eine Welt ohne Drogen glaubt der Experte nicht. Die Freude am Rausch sei etwas, was schon seit langen Zeiten zur Zivilisationsgeschichte des Menschen gehöre. Wittmann bewertet es deshalb durchaus positiv, dass so gut wie alle, die in die von der Mudra speziell für junge Drogenabhängige eingerichtete Nürnberger Beratungsstelle "Enterprise" kommen, sehr ehrlich zugeben, dass sie sich nicht komplett vom Cannabis-Konsum lösen, "sondern ihn nur besser in den Griff bekommen wollen".

Loskommen ist leichter als bei anderen Drogen

Etwa ein Drittel der Jugendlichen geht diesen Schritt freiwillig, der große Rest wird dazu durch drogenbedingte Probleme mit der Justiz, der Schule, dem Arbeitgeber oder der Familie genötigt.

Aus rein medizinischer Sicht ist dagegen auch ein Komplettausstieg aus dem Cannabis-Konsum relativ problemlos. Laut Psychiater Thomas Hillemacher ist ein Entzug im Gegensatz zum Ausstieg aus anderen Arten der Drogensucht meist nur mit einem vorübergehenden Unruhe-Gefühl verbunden. Auch die gefährlichen Begleiterscheinungen des übermäßigen Konsums, bis hin zu Psychosen, "sollten nach dem Entzug eigentlich von alleine verschwinden".

Nicht immer ist das am Ende so. Wenn in den Familien der betroffenen Jugendlichen eine auffällige Disposition für psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie vorliegt, können die Komplikationen in Zusammenhang mit dem Drogenkonsum durchaus länger anhalten.


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Ein Warnsignal für Cannabis-Konsumenten sollte laut Hillemacher sein, wenn sie den Drogenrausch als "bewusstseinserweiternd, als positiv und bereichernd erleben". Ein geringeres Risiko für psychiatrische Erkrankungen müssten dagegen Konsumenten fürchten, bei denen Cannabis lediglich entspannend wirke.

Dem 18-jährigen Stefan geht bisher jede Einsicht in den Teufelskreis seiner Sucht ab. Trotz mehrerer Psychiatrieaufenthalte will er die Finger nicht vom Cannabis lassen. Seine Eltern haben ihre Erwartungen in die Zukunft des Sohnes mittlerweile auf ein Minimum heruntergeschraubt. Wenn Stefan ein einigermaßen selbständiges Leben führen könnte, wären sie schon zufrieden.


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