Nach Rücktritt: Giffey soll der SPD die Hauptstadt retten
19.5.2021, 16:02 UhrLange Zeit schien Franziska Giffey wie eine SPD-Politikerin aus dem Bilderbuch. Bei ihr passte einfach alles, von der Herkunft als Handwerkertochter in einer ostdeutschen Kleinstadt über den Bildungsweg bis hin zu den Etappen ihrer Karriere. Nicht zu vergessen ihr patentes Auftreten in der Öffentlichkeit. Die Genossinnen und Genossen trauten ihr höchste Ämter zu: Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Parteivorsitzende, Kanzlerin.
Sie feierte erst vor wenigen Tagen ihren 43. Geburtstag und ist damit nur unwesentlich älter als Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40). Doch sie hat viel mehr Verwaltungserfahrung. Fünf Jahre lang war sie Bezirksstadträtin für Schule und Kultur, drei Jahre Bezirksbürgermeisterin von Neukölln (330.000 Einwohner) und drei Jahre Bundesfamilienministerin.
Kommentar zum Giffey-Aus: Darum war der Rücktritt richtig
Eines würde Franziska Giffey, wenn sie denn könnte, im Nachhinein bestimmt gerne ungeschehen machen - ihre Entscheidung, in den Jahren zwischen 2005 und 2010 berufsbegleitend zu promovieren. Zwar wurde die Doktorarbeit zu einem europapolitischen Thema von der Freien Universität Berlin angenommen, aber seit Anfang 2019 hat sie nur noch Ärger mit dem Titel.
73 problematische Stellen
Plagiatsjäger fanden 73 problematische Textstellen in der Arbeit. Die Uni prüfte die Vorwürfe, ließ Giffey aber mit einer Rüge davonkommen. Das Gremium war - vorsichtig gesprochen - sehr ministerinnenfreundlich zusammengesetzt gewesen. Es folgte ein zweites Verfahren, von dem inzwischen zumindest so viel durchgedrungen ist, dass die Politikerin den Titel vermutlich verlieren wird.
Von da an war es geschehen. Franziska Giffey, die schon längere Zeit nicht mehr als „Frau Dr.“ auftritt, würde zurücktreten müssen. Sie selbst hatte das angekündigt. Nun wollte sie wenigstens noch einen Rest an Selbstbestimmung erhalten und nicht die offizielle Verkündung durch die Uni abwarten.
Blöder hätte es für die Sozialdemokratin nicht laufen können. Dieser vermutlich letzte Akt ihrer Promotionsaffäre spielte gleich in zwei wichtige Wahlkämpfe hinein - den im Bund und den im Land Berlin. Das Problem im Bund hat sich mit dem Rücktritt weitgehend erledigt. Aber in der Hauptstadt ist Giffey als Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin für die SPD so wichtig wie niemand anders.
In Willy Brandts Tradition
Berlin ist die Stadt schlechthin für die Partei. Ernst Reuter war in der Nachkriegszeit ein legendärer Bürgermeister („Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“). Willy Brandt regierte hier, bis er Bundeskanzler wurde. Später folgten Heinrich Albertz und Klaus Schütz - allesamt markante Persönlichkeiten. Seit 20 Jahren sitzen die Sozialdemokraten nun schon ununterbrochen an den Schalthebeln. Doch das alles ist in erheblicher Gefahr.
Die SPD liegt in den Umfragen fünf Prozentpunkte hinter den Grünen, ihr Regierender Bürgermeister Michael Müller vermochte keinen rechten Amtsbonus aufzubauen. Dem Landesverband - von den Realos bis zu den Linken - war schnell klar: nur die beliebte Franziska Giffey würde eine Wende herbeiführen können.
Die Berliner haben sie noch gut als Bürgermeisterin des Bezirks Neukölln in Erinnerung. Dort hatte sie den Spagat hinbekommen, an die harte Linie ihres Vorgängers Heinz Buschkowsky anzuknüpfen, diesem Auftreten aber gleichzeitig ein fürsorglich-freundliches Antlitz zu geben.
Härte und Fürsorge
Giffey griff durch, wenn sich junge Migranten nicht an die Regeln hielten. Sie war aber auch immer vor Ort, um das Gespräch mit genau diesen Menschen zu suchen. Überhaupt war sie eine Rathauschefin der ungewöhnlichen Art. Wurde die Vermüllung der Straßen und Plätze im Bezirk zum Problem, setzte sie einfach Müll-Detektive ein, die den Übeltätern nachspürten. Anderen hätte man es übel genommen, der immer lächelnden Bürgermeisterin kaufte man es als Fürsorge für Neukölln ab.
Genau mit diesen Eigenschaften soll sie nun auch die ganze Hauptstadt erobern: bodenständig, nicht so theorielastig wie viele Linke in Berlin, kurz: eine Frau, mit der die vielen Neubürger(innen) aus der ganzen Republik etwas anfangen können, aber auch die Alteingesessenen. In gewisser Weise soll sie auch an die längst verlorene Lässigkeit des Ex-Bürgermeisters Klaus Wowereit anknüpfen.
Die Frage dürfte nun sein: Wie weit interessieren sich die 3,5 Millionen Menschen in Berlin für den verloren gegangenen Doktortitel und die Betrugsvorwürfe? Noch gibt es keine verlässlichen Rückschlüsse darauf. Die Opposition überlegt noch, ob und wie heftig sie sich mit der populären SPD-Kandidatin anlegen soll. Die Wähler könnten ja auch der Meinung sein, die 43-Jährige habe nun schon genug gebüßt.
Nach 14 Männern in Folge
Sollte es Franziska Giffey im Herbst schaffen, ihre Sozialdemokraten zur stärksten Fraktion im Abgeordnetenhaus zu machen, würde sie nach die erste Regierende Bürgermeisterin nach 14 Männern in Folge. Einen Titel ihres Vorgängers würde sie wohl nicht behalten.
Michael Müller war in Personalunion auch Berliner Wissenschaftssenator. Das würde sich eine Nachfolgerin Giffey, die selbst ihren Doktortitel wegen Unregelmäßigkeiten verloren hat, wohl nicht antun. Denn da müsste sie auch Reden und Grußworte über die akademischen Tugenden halten.
Am 26. September war die Bundestagswahl 2021. Alle Ergebnisse - regional und landesweit - sowie weitere Entwicklungen rund um die Koalitionsbildung finden Sie auf nordbayern.de/bundestagswahl.
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