"Das Tagebuch der Anne Frank": Leben im Versteck

03.03.2016, 08:00 Uhr

© Universal

Regisseur Hans Steinbichler wollte, wie er in Interviews betonte, nicht den Mythos Anne Frank bedienen, sondern die Geschichte eines ganz normalen Mädchens erzählen - eines Teenagers, der mit seinen widerstreitenden Gefühlen kämpft, aufbegehrt, das Erwachen der Sexualität erlebt. Das ist ein Wagnis, wenn es um eines der berühmtesten Opfer des Holocaust geht, das sich die letzten zwei Jahre seines kurzen Lebens mit sieben weiteren Leidensgefährten in einem Amsterdamer Hinterhaus verstecken musste. Tatsächlich wird Steinbichler seiner Protagonistin mit diesem Ansatz nicht gerecht - auch weil er keine eigene Stimme für sie findet.

Der Film beginnt mit einer im Dunkeln verzweifelt schluchzenden Anne und blendet dann zurück in die Schweiz, wo Verwandte der Franks ein sicheres Exil gefunden haben. Inszeniert in Nahaufnahmen vor schönster Bergkulisse ist das die pure Postkartenidylle. Kurz darauf sieht man Anne Frank ein letztes Mal in Freiheit, mit Freundinnen am Meer in Holland, wo ihr Vater Otto Frank (Ulrich Noethen) die Familie sicher glaubt. Doch eine Gruppe holländischer Jungnazis mit hässlichen Fratzen vertreibt die jüdischen Mädchen vom Strand. Die mutige Anne wehrt sich - natürlich vergeblich.

Beide Eingangssequenzen kommen so plakativ daher, dass man Schlimmes befürchtet. Doch wenn Anne und ihre Schwester Margot (Stella Kunkat), die Mutter (Martina Gedeck) und Otto Frank dann, als die Gefahr der Deportation konkret wird, in das enge dreistöckige Hinterhaus klettern, dessen einziger Zugang hinter einem Aktenschrank liegt, wird die Brutalität ihres Schicksals schlagartig offenbar. Auf ungewisse Zeit eingesperrt zu sein, keine frische Luft atmen zu können, nur flüsternd zu sprechen, solange die Arbeiter unten in der Werkstatt sind, sich die wenigen Quadratmeter bald noch mit der Familie van Daan und einem Arzt teilen zu müssen - beklemmend macht der Film da spürbar, wie unerträglich das ist.

Streitlustige Wohngemeinschaft

Doch Steinbichler will ja die Normalität zeigen, und dazu gehört bald auch, dass die achtköpfige Zwangsgemeinschaft streckenweise wie eine streitlustige Wohngemeinschaft anmutet. Zu Essen gibt es dank Ottos treuer Sekretärin Miep Gies (Gerti Drassl) reichlich, auch an alkoholischen Getränken herrscht kein Mangel. Doch was in Anne vorgeht, ihre für ein anfangs 13-jähriges, am Ende 15-jähriges Mädchen erstaunlich tiefgehenden Gedanken, ihre Verzweiflung, ihre Träume, ihr wacher Blick auf ihre Umgebung, das alles skizziert Steinbichler eher, stellt es fast aus, lässt Anne lieber im Off aus ihrem Tagebuch lesen - und findet doch keinen Zugang zum inneren Erleben seiner Hauptfigur. Die durchgängig pathetische Musik nützt da auch nichts - im Gegenteil.

Schön immerhin zeigt der Film die große Vertrautheit der Schwestern, in die sich Eifersucht mischt, als Anne sich in den Sohn der van Daans verliebt. Und wirklich berührend gelingt Steinbichler - auch dank der hervorragenden Schauspieler - die Darstellung der engen Vater-Tochter-Beziehung. Martina Gedeck bleibt in ihrer Rolle als von Anne zurückgewiesene Mutter dagegen recht blass. Grausam und erschütternd ist das Schlussbild, als den drei Frauen nach dem Verrat ihres Verstecks und dem Abtransport nach Auschwitz die Köpfe kahl geschoren werden.

Steinbichlers Film entstand unter schwierigen Bedingungen. Produzent Walid Nakschbandi, selbst mit 14 Jahren aus Afghanistan geflohen, wollte, als er die Filmrechte vom Basler Anne Frank Fonds erwarb, einen Film, der die politische Dimension betont und Parallelen zur aktuellen Flüchtlingstragödie herstellt. Das war auch die Intention von Drehbuchautor Fred Breinersdorfer. Steinbichler drehte jedoch einen ganz anderen Film. Was jetzt im Kino zu sehen ist, ist das Ergebnis eines am Ende noch versuchten Kompromisses. Zu wenig, um Anne Frank ein würdiges filmisches Denkmal zu setzen. (D/128 Min.)

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